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[123] Mühlhausen, Weihnachtsabd. auf der Wachstube


Liebste, ich bin ganz vergnügt über dieses Wachstubenweihnachten. Die Nachricht über Wilhelm hat mich so melancholisch gemacht, daß ich heute lieber nicht unter den Kameraden sitze. Ich kann ungestörter an Euch alle, an mein Leben und unsre Zukunft – und Vergangenheit denken. Vergangen ist so viel in diesem Jahre! Das Haus[123] hinter der katholischen Kirche, das Haus in Bonn, Haus Kandinsky, nun auch Gendrin, – die Frauen sind überall dageblieben, aber der Sinn jener Häuser ist dahin. Wie glücklich sind wir, unser kleines Ried zu haben, als feste Insel in diesem Vergehen. An ihm will ich mit allen Fibern meiner Seele halten, daß uns und anderen wenigstens diese Feste bleibt. Ich denke mit jedem Tag sehnsüchtiger nach Hause. Aber ehe der Krieg vorbei ist, will ich gar nicht heim – schon weil ich es nicht kann. Ich bin froh, wieder so gesund geworden zu sein, daß an Urlaub nicht zu denken ist. Ich bereue auch keinen Tag, mich ins Feld gemeldet zu haben. Ich wäre in München stets unglücklich, gedrückt und unzufrieden gewesen und hätte für mein Wesen und Denken zu Hause nichts gewonnen, sicher nicht das gewonnen, was mir heraußen der Krieg gegeben hat. Ein bißchen stiller und melancholischer wirst Du mich vielleicht finden, – Du wirst es auch sein; die Klugen und Denkenden alle werden nicht dieselben sein wie früher. Eine solche Zeit durchleben die Menschen nicht alle 100 Jahre, viel seltener sogar. – Was mir das Soldatenleben schwer macht, (– es wäre in München das gleiche), daß ich neben und zwischen den Dienst hindurch immer andere Gedanken und Pflichten im Kopf habe und den Dienst immer gegen meine Kopfarbeit und diese gegen den Dienst ausspielen muß. Ich beneide so oft meine Kameraden, die im Feld nur Soldaten zu sein brauchen und von nichts anderem innerlich gequält und beschäftigt werden als höchstens der Sehnsucht nach Hause, die ich genauso habe wie sie. Aber ich kann mich von meinen Gedanken und Träumen nicht losmachen, will es auch gar nicht. Die kleinste Zeitungsnotiz, die gewöhnlichsten Gespräche, denen ich zuhöre, bekommen für mich einen geheimen Sinn und Hintersinn; hinter allem ist immer noch etwas; wenn man dafür einmal das Ohr und Auge bekommen hat, läßt es einem keine Ruhe mehr. Auch das Auge! Ich beginne immer mehr hinter oder besser gesagt: durch die Dinge zu sehen, ein Dahinter, das die Dinge mit ihrem Schein eher verbergen, meist raffiniert verbergen, indem sie den Menschen etwas ganz andres vortäuschen, als was sie tatsächlich bergen. Physikalisch ist es ja eine alte Geschichte; wir wissen heute, was Wärme ist, Schall und Schwere, – wenigstens haben wir eine 2. Deutung, die wissenschaftliche. Ich bin überzeugt, daß hinter dieser noch wieder eine und viele liegen. Aber diese 2. Deutung hat den menschlichen Geist mächtig verwandelt, die größte Typusveränderung, die wir bis jetzt erlebt haben. Die Kunst geht unweigerlich denselben Gang, freilich auf ihre Art; und diese Art zu finden, das ist das Problem; unser Problem! An solchen Problemen herumfingern und sich quälen und gleichzeitig Soldat sein und kein schlechter (denn das bin ich keineswegs), ist wirklich oft recht schwer. Wann es wohl Schluß sein wird? Ich glaube immer noch an ein plötzliches Nachgeben der Franzosen, an das ›Wunder‹, auf das Niestlé und Du[124] gewartet habt. (Der Krieg selbst ist übrigens Wunder genug, um die alte Prophezeiung zu rechtfertigen). Sie werden plötzlich einsehen, wohin die englische Politik sie treibt: die Engländer haben das größte Interesse daran, daß Deutschland und Frankreich sich gegenseitig verbeißen und bis zur Verblutung schwächen. Ein ganz geschwächtes Frankreich ist das gefügigste Werkzeug der späteren Engländer. Darum ziehen die Engländer den Krieg auch so in die Länge und verteidigen höchstens Calais mit aller Hartnäckigkeit, denn hier liegen englische strategische Interessen. Am Anfang war das anders, da bestand noch das Triple-Entente-Interesse. Aber seit die Russen und Franzosen in der Offensive versagt haben, ist der Plan und die Politik der Triple-Entente längst dahin; sie besteht nicht mehr. England kämpft nur mehr für sich und profitiert von der Schwächung aller Staaten. Die letzte große Offensive der Franzosen, seit dem 16. Dezember auf der ganzen Linie, ist kläglich gescheitert. Vor Verdun sowohl als hier stimmen die amtlichen Berichte genau mit den Tatsachen, das kann ich Euch zur Beruhigung sagen. Im Norden wird es wohl auch so sein. Frankreich kann nicht mehr lange standhalten. Ich glaube, ihr wunder Punkt ist der Argonnenwald; hier wird der deutsche Durchbruch erfolgen; ein Aufrollen der französischen Frontlinie von Norden her scheint unmöglich. Freilich hab ich immer gedacht, daß die Ereignisse schneller kommen würden; aber kommen werden sie und mit ihnen der Tag, wo man ›das Ganze haltt!!‹ blasen wird. Dann komm ich wieder! Schreib mir von Eurer Reise; von Hertha und dem armen kleinen Piep. Wo ist der gute Wilh. bestattet? Ich war in Gedanken mit Euch; bleibt gesund und laßt Euch vom Gram nicht niederdrücken. Ein bessres neues Jahr uns allen, mit Küssen Euer Frz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 123-125.
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