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[141] Bei dem Suchen in meinem aufgehäuften Kram, um Belege und Notizen zur Geschichte meines Lebens aufzufinden, stoße ich auf so[141] viele Zeichen treuer Freundschafts- und Liebebezeigung, daß mich ein bittres Gefühl beschleichen will, ich sei dafür nie dankbar genug gewesen, daß gar manche Seele, die sanft oder auch stürmisch mit ihrer Zuneigung sich mir genaht haben mag, wohl enttäuscht gewesen sein dürfte, und in meinem Wesen kalte Zurückhaltung, statt warme Dankbarkeit gefunden haben wird. Das wäre noch eine große Schlußabrechnung, aus der mir ein peinliches Gefühl übrigbleiben könnte.

Doch möchte ich hier sagen, daß ich ein dankbares Gemüt habe, daß ich all der freundlichen Menschen, die mir mit Gruß und Zuruf auf dem Wanderwege begegnet sind, in getreuer Dankbarkeit gedenke, daß ich jedem einzelnen meinen Dank zeigen möchte. Das geht aber nicht, es sind gar viele, und gar manche davon haben ihre Rechnungsbücher schon abgeschlossen und haben Feierabend gemacht, und werden wohl sagen: »Lassen wir doch jetzt die Rechnerei!«

Jeder Mensch wird auf seinem Lebensweg viel Liebe erfahren müssen, wenn nicht, so stirbt er oder es stirbt etwas in ihm; aber auch, je greller das Licht ist, desto dunkler der Schatten, viel Haß. Der Menschenweg geht nun einmal zwischen den Gegensätzen hindurch, so muß er seinen ruhigen Weg finden. Jeder wird auch sein Teil Feindschaft erleben müssen, und wenn sie auch nur aus Platzmangel und Futternot herrührt, oft ist Feindschaft fast nur umgewendete Freundschaft, so sind sie oft miteinander verkoppelt. Wohl kann der Mensch froh sein, wenn er recht vielen Gleichgültigen begegnet, die ohne Liebe und ohne Haß an ihm vorüberziehen, die so wenig wie er belästigt sein wollen, die ihn stillschweigend gewähren lassen, wenn er Blumen pflücken will am Rande des Weges. Er verhalte sich nur recht still, daß sie nicht aufmerksam auf ihn werden. Ost hilft aber auch alle Stille nicht. Auch dadurch kann man auffallen und es kann zum Vorwurf werden, daß man nicht mitmacht. Deshalb rät ein weises Sprichwort: »Man muß mit den Wölfen heulen!«

Wenn man von einem feindlichen Wolf angeheult wird, so dürfte es auch dem Stillen gut sein, wenn er auch ein wenig entgegenbellt. Der Wolf hält ihn dann für seinesgleichen und läßt ihn gelten. Jenseits von Liebe und Haß steht etwas, was ich Versöhnung nennen möchte. Beide können auf die Menschenseele zerstörend wirken, wenn[142] sie zu ungemischt genommen werden. Versöhnung ist ein Zauberwort, das so schön klingt, das ich mir so gerne deuten möchte. Es beruht wohl auf dem hohen Erkennen, welches den wahren Sinn des Lebens ahnt, spricht: Friede sei mit euch, es ist alles gut so, wie es geordnet ist.

Es ist aber jetzt Zeit, daß ich mein Schreiben vom Lebenslauf zum Abschluß bringe. Ich hätte wohl noch manches zu sagen, wie einem oft erst beim Abschiednehmen das noch einfällt, wenn es fast zu spät ist, was man dem Freund noch sagen wollte. So fällt mir noch vieles ein, was ich vergessen habe, aber auch vieles, was ich hätte weglassen können. Dann kommt auch der quälende Gedanke, ob es wohl der Mühe wert gewesen ist, dies hinzuschreiben oder vielmehr, ob es auch der Mühe wert sein mag, dies Geschriebene zu lesen. Der Vernichtungsgedanke, der neben dem Menschenleben es bedrohend einherläuft, vielleicht als Hemmschuh gegen allzu große Verwichtigungsgefühle, will hier Platz greifen.

Aber dem sei jetzt wie es wolle. Ich will nichts mehr ändern; was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben; ich kann ja auch nichts mehr ändern an dem, was und wie ich gelebt habe, das alles muß ich nun so dahinnehmen mit allen Unzulänglichkeiten, Ungeschicklichkeiten, Fehlern und Verzeichnungen, wie sie wohl öfters beim Entstehen von Menschenwerken mit entstehen. Es sind Dinge, die man durch Ausradieren nicht mehr verbessern kann.

Je mehr ich mit dem Schreiben meines Lebenslaufes in das hineinkomme, was wir die Gegenwart, die Jetztzeit nennen, desto schwieriger wird für mich die Sache, desto weniger kann ich über Sachliches berichten. Es wird undeutlich, es verliert die Bedeutung, die man ihm beilegt. Das Alter ist weitsichtig geworden, es sieht nur noch gut die Dinge, die in der Ferne liegen, für die Nähe braucht es etwas wie eine Art von Brille. So kann es, wenn es erzählen will, zum Schlusse nur noch einen Nebel von Betrachtungen machen, hinter denen es zu verschwinden trachtet. Es wird auch von einer Sorge bedrückt, daß es aus der Einsamkeit, der es sich ergeben hat, gewaltsam herausgerissen werden könnte, und es kann das rauschende Leben nur noch schmerzlich empfinden. Es klammert sich an die Einsamkeit an, der es nun verfallen[143] ist – und so wird aus einem alten Schwarzwälder zum Schluß ein Waldbruder, der in das große Geheimnis der Natur versinken will. Und seine letzte Stimme kann nur noch zu einem dankbaren Lobgesang werden an den lebendigen Gott, von dem er stammt, der seine Wege geleitet und zu dem er nun bald wieder heimkehren darf, in der freudigen Hoffnung auf dessen ewige Liebe und Barmherzigkeit. Wesenlos wird ihm das Menschenleben, der Jammer, mit dem sie sich plagen, den er nicht mehr versteht, er flüchtet sich zur Liebe hin, die am Kreuz noch ihre Arme ausbreitet mit dem Versöhnungsruf: Es ist vollbracht!


Einsiedlers Nachtlied.

Einsam wandle ich im Dämmerschein;

Die Welt wird still, bald bricht die Nacht herein.

Die Sonne sank, der Mond verlor den Schein;

Der Seel' wird bang beim Wandern in die Nacht hinein.

Es fallen ihr vom Sehen nun die Augen zu.

Ob sie sich wehrt, sie muß nun doch zur Ruh;

Dem Spiel mit ihren schönen Siebensachen

Wird der tiefe Schlaf ein Ende machen.

Aus ist bald ihr Weinen, kein Licht will ihr mehr lachen;

Zu Verwesung nimmt den Leib des Grabes Rachen.

O Herr des Lebens, nimm mich nun ganz mit dir,

Sei Du mein ewig Licht so dort wie hier.

Mein Gott, Du darfst mich nicht verlassen,

Du sollst meine Seel' in Deine Hände fassen.

Du, meine Sonn', wirst nie mehr untergehen,

Mein Mondschein bleibst in meiner Nacht bestehen.

Zum Herrn des ew'gen Lichts geht nun die Seele ein;

Durch dunkles Tor da wird sie frei aller Erdenpein.

Aus der Heimat fern kommt's schon wie Morgenschein;

Die Leidenstage enden. In Gottes Ruh' wird's lieblich sein.[144]

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 141-145.
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