6.

Kömmst aus jenes Kinnes Brunnen

Du dereinst heraus, o Herz,

Kommst du, wo du hin auch gehest,

Nur heraus mit Reueschmerz.

Nicht mit Einem Tropfen Wassers

Labe dich des Himmels Hand,

Kommst du mit noch durst'ger Lippe

Von des Lebensquelles Rand.

Sei auf deiner Hut, denn horch'st du

Auf der Sinne Schmeichelwort,

Kommst du, wie einst Vater Adam,

Aus Rĭswān's Gefilden fort.

Sterben will ich in der Sehnsucht

Dich zu schau'n, dem Morgen gleich,

Hoffend, dass hervor du kommest

Wie die Sonne strahlenreich.

Mit dem Athem des Bestrebens

Hauch' ich, gleich dem Ost, dich an,

Und, wie Rosen aus der Knospe,

Kommst heraus du lächelnd dann.

Auf den Mund trat mir die Seele

In der finster'n Trennungsnacht:

Zeit ist's, dass hervor du kommest,

Gleich dem Mond, in lichter Pracht.

Wohl zweihundert Thränenbäche

Leitete ich an dein Thor,

Denn, als wandelnde Zipresse

Hofft' ich – kämest du hervor.

Bis wie lang wirst du noch weilen

In des Gram's und Kummers Haus?

Zeit ist's, dass du, von des Herrschers

Glück begünstigt, komm'st heraus.

Sorge nicht, Hafis; dein Joseph

Kehret heim, schön wie der Mond,

Und du kömmst aus jenem Stübchen

Wo du trauernd hast gewohnt.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 3, S. 19-21.
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