75.

Ich liebe innig dich, o Seele,

Und weiss zugleich, dass du es weisst;

Denn Unsichtbares sieht dein Auge

Und Ungeschrieb'nes liest dein Geist.

Der Engel, der vor Adam kniete,

Dir meinte er zu huld'gen nur,

Denn deine Schönheit fand erhaben

Er über menschliche Natur.

Im Ringe deiner Locke sammeln,

Bei Gott! sich alle Herzen heut:

Mög'st immer du gesichert bleiben

Vor jenem Winde, der zerstreut!

Das Band des Gürtels Ihm zu lösen

Erlaubt mir hoffentlich das Glück:

Um Gotteswillen, los' die Knoten

Dir von der Stirn, du mein Geschick!

Zerstreu' dein Haar, und führ' den Ssofi

Zum Spiele und zum Tanz heran:

Aus jedem Lappen seiner Kutte

Streu'st du ihm tausend Götzen dann.

Der Lockenhauch der holden Schönen

Erhellt mein Aug' wie Fackelschein:

Geschützt vor Winden des Zerstreuens,

O Herr, sei dies Gesammeltsein!

Was kann der Tadler vom Geheimniss

Des Paares, das sich liebt, versteh'n?

Kann doch das Auge eines Blinden

Verborg'ne Dinge nimmer seh'n.

Sich grämen um die Weggefährten

Steht mit Vernunft im Widerstreit:

Ertrag' des Postenlaufs Beschwerden

Und denke an die leichte Zeit![215]

Weh, einem Morgenlüftchen ähnlich

Schwand das bei Nacht genoss'ne Glück!

Herz, du erkennst den Werth der Liebe

Erst in der Trennung Augenblick.

Das Wahnbild Seines Lockenreifes,

Hafis, umgarnet dich mit List:

Hör' auf am Ringe eines Glückes

Zu rütteln; das unmöglich ist.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 3, S. 213-217.
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