30.

Gestern Abends sagte ich: »Der Sehnsucht

Ihn zu schauen will ich mich erwehren.«

»Wo sind Ketten? – sprach Er – den Verrückten

Will ich eines Anderen belehren.«

Seine Hochgestalt nannt' ich Zipresse;

Da im Zorne wandt' er sich von hinnen!

Wird mein Bild durch Wahrheit schon beleidigt,

Freunde, sagt, was soll ich dann beginnen?

Sprach ich Worte, die ich schlecht gewogen,

O mein Herzensräuber, so verzeihe!

Sei auch freundlich, dass ich dem Gemüthe

Das verlorne Gleichgewicht verleihe!

Jenem Zarten hab' ich es zu danken

Dass ich schuldlos an der Gelbsucht leide;

Schenke, gib ein Glas mir, dass ich wieder

Mein Gesicht in's Roth der Rose kleide!

Sage, Lüftchen, du von Leila's Stätte,

Ob's um Gotteswillen lang noch währe

Dass ich Fluren in des Oxus Fluthen,

Und in Trümmer Wohnungen verkehre?

Ich, der zu des Freundes Schönheitsschatze

Bin gelangt, dem unermesslich reichen,

Will in Zukunft zu Cărūnen machen

Hunderte von Bettlern die mir gleichen.

Mond, beglückter Herrscher, lass Hafisen,

Deinen Knecht, dir im Gedächtniss leben,

Dass für's Glück ich jener Reize bete

Die sich täglich strahlender erheben!

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 2, S. 283-285.
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