Der Glücks-Topff

[101] Wenn wir der finstern Höl und Wohnung sind entgangen/

Darinn uns die Natur neun Monat hält gefangen.

Von solcher düstern Nacht und tieffem Schlaff entrissen/

Des hellen Tages Licht zum ersten mahl begrüssen/

So pfleget uns alsbald der Himmel vorzuschreiben/

Was der und jener Mensch vor Lebens-Art soll treiben.[101]

Es hat die Ewigkeit den Sternen eingepräget/

Was ein iedweder Sinn vor Neigung bey sich träget/

Man siehet dannenher aus schwacher Reiser Blühen/

Was ihr bejahrter Stamm vor Früchte wird erziehen.

Bey diesem sehn wir Lust zu Wissenschafft entspringen/

Und unterschiedner Art verschiedne Früchte bringen/

Der Eine folget nach dem Triebe seiner Sinnen/

Sucht seinen Auffenthalt durch Künste zu gewinnen/

Lehrt die verkehrte Welt nach Gottes Willen leben/

Beym Richter einen Spruch vor seinen Theil erheben/

Der eingefallnen Hand den schwachen Puls berühren/

Durch zweiffelhafften Satz das Gegentheil verführen/

Sich um ein jedes Wort in tausend andern zweyen/

Durch süsser Reime Schall ein zartes Ohr erfreuen/

Und durch was Mittel mehr die Sicherheit vom Sterben

Ein Weißheit-schwangres Hirn gedencket zu erwerben.

Ein andrer mag nicht stets in fauler Ruhe sitzen/

Bey seiner Mutter Schos und hinterm Ofen schwitzen/

Will lieber in die Welt durch Hagel/ Eyß und Eisen/

Auch durch erzürnte See/ durch Wind und Wellen reisen/

Und gegenwärtig selbst erfahren/ sehn und hören/

Was ungewisser uns die stummen Bücher lehren.

Ein andrer/ voll von Mutt und kühner Helden Hitze/

Beut seinem Feinde dar die kriegerische Spitze/

Wo Trommel und Trompet im freyen Felde klingen/

Wo ihren rauhen Paß die groben Stücke singen/

Wo man ein festes Ort bestürmet und beschützet/

Wo man das heiße Blutt aus hundert Wunden schwitzet/

Da hat er einen Sitz und Wohnung auffgeschlagen/

Bereit vor Ehr und Gutt das Leben hinzuwagen.

Ein andrer/ den sein Sinn zu Ruh und Friede träget/

Denckt emsig nach/ wie er der stillen Wirthschafft pfleget/

Wo er den Tünger soll dick oder dünne breiten/

Wie er das fette Feld soll seicht und tieff bereiten/

Ob er die reiffe Frucht läst hauen oder schneiden/

Wo er die Schafe soll/ wo Pferd und Rindvieh weyden/

Wo Erbsen/ Rüben/ Kraut und Hierse wohl gerathen/

Wo Jagt und Fischerey am besten gehn von staten/[102]

Wie Schweine/ Federvieh und Bienen auffzubringen/

Und was ein Land-Wirth mehr weiß von dergleichen Dingen.

Ein andrer nahet sich zu grosser Fürsten Throne/

Wählt vor den Hutt von Stroh die Demant-reiche Krone/

Will lieber Tag und Nacht in hohen Sorgen schwitzen/

Als weit von Hof und Stadt in stiller Ruhe sitzen/

Will lieber tieff gebückt an fremde Zepter rühren/

Als seinen Hirtenstab in freyen Händen führen/

Will lieber fremder Macht zum Dienste sich ergeben/

Als sein selbst-eigen Herr und seines Willens leben/

Sucht vor ein niedrigs Hauß die stoltzen Pracht-Gebäue/

Giebt öffters hin um Ehr und Gütter/ Seel und Treue/

Muß sich/ ie mehr er steigt/ ie mehr zum Falle wagen/

Und/ als ein leichter Ball/ vom Glücke lassen schlagen.

Ein andrer machet sich zum Sclaven blinder Liebe/

Folgt seiner Eigenschafft und Lüste kühnem Triebe/

Bett seine Göttin an/ abgöttert ihren Augen/

Vor denen Sonn und Mond und Sternen wenig taugen/

Macht lauter Edelstein aus ihrem Mund und Wangen/

Rühmt/ wie der Haare Gold sein Hertze nimmt gefangen/

Wie sein verliebter Geist in hellen Flammen brennet/

Und keine Kühlung sonst/ als ihre Küsse/ kennet/

Bringt Täg und Nächte zu vor seiner Liebsten Pforte/

Giebt seine Freyheit hin um ein paar süsser Worte.

Ein andrer schleust sich ein in seines Closters Wände/

Ein Raum sechs Ellen breit ist ihm der Erden Ende/

Sein Zeit-Vertreib ein Buch/ Gedancken sein Geselle/

Sein Königreich die Kutt/ und sein Pallast die Zelle/

Er will den geilen Leib durch Sparsamkeit casteyen/

Verbannt sich von der Welt in öde Wüsteneyen/

Verstellet/ kränckt und schwächt die sonst geschickten Glieder/

Legt all Empfindligkeit vor seiner Schwelle nieder.

Ein andrer will der Welt und ihrer Lust genüssen/

Läst seine Frühlings-Zeit in Fröligkeit verschüssen/

Läst vor die späte Nacht/ läst vor den andern Morgen/

Vor Hauß/ vor Weib und Kind die grauen Alten sorgen/

Läst ihm ein frisches Glaß voll Wein und Bier gefallen/

Ein thönendes Ronda in seinen Ohren schallen/[103]

Hat Hertze/ Wort und Glaß auff eine Zeit im Munde/

Wendt auff dergleichen Lust bey Freunden manche Stunde.

So führt der Eine diß/ der Andre das im Schilde/

Wir Brüder sind nach Holtz geschickt zu jedem Bilde.

Laß uns von allem was zu unserm Vortheil wehlen/

So kan ja unser Schluß das Beste nicht verfehlen/

Zwar unsre Jugend hat zum erstren sich geneiget/

Gleich wie das Werck izt selbst des andern Probe zeiget;

Wer weiß wo noch Gradiv des dritten uns gewehret!

Das vierdte wird uns schon zu seiner Zeit bescheret/

Das fünffte mag dem Glück anheim gestellet bleiben/

Das sechste müssen wir ohn alle Mittel treiben.

Denn wo dergleichen nicht von Adam her geschehen/

Wer wolt uns dieser Zeit in Straßburg sitzen sehen?

Was folget/ giebt sich selbst/ wenn wir zu Witwern werden/

Und unser halbes Theil verscharren in die Erden/

Wenn mit der Zeit die Kräfft in unsrer Brust verseigen/

Und wir des Todes Bild in allen Gliedern zeigen.

Da lernen wir der Welt Ade und Urlaub geben/

Und mitten in der Welt als Closter-Leute leben/

Da müssen wir offt Speiß und Tranck gezwungen missen

In Bett und Schlaffgemach den siechen Cörper schlüssen.

Drum Bruder/ weil so viel die Jahre noch vergünnen/

Laß deinen Nahmens-Tag nicht ohne Lust zerrinnen/

Laß gutte Freund hiervon das beste Theil genüssen/

So soll er dich noch offt in Freud und Lust begrüssen.

Und weil wir noch zur Zeit in Ungewißheit schweben/

In welchem Stande wir ins künfftig werden leben/

So wollen wir vor Lust in diesen Glücks-Topff langen/

Vielleichte können wir/ was uns vergnügt/ empfangen.


Quelle:
Hans Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Bern 1970, 4, S. 101-104.
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