VI

[215] Er schwankte in sein Zimmer zurück, und warf sich auf sein Lager. Da faßte er den Entschluß, noch heute das Haus zu verlassen, wo die Wunden seines Herzens, statt still zu vernarben, täglich bluten mußten, und je brennender der Eindruck war, den der erlauschte Anblick der Geliebten in einer so verführerischen Situation auf seine Seele gemacht hatte, je mehr sah er ein, wie sehr es Noth that, so schnell wie möglich den Versuch zu wagen, ob er zu verdrängen sei.

Als daher nach einer Stunde Erna, wie gewöhnlich, völlig gekleidet aus ihrem Zimmer trat, ihm einen guten Morgen zu bieten, und nach seinem Befinden zu fragen, erwiederte er ohne Aufschub ihren freundlichen Gruß mit der Erklärung, daß er die erhaltene Erlaubnis des Arztes,[215] die Luft wieder genießen zu dürfen, auf das endliche Verlassen dieses gastfreien Aufenthalts ausdehnen wolle, indem er vielleicht schon zu lange ihre Güte durch eine Pflege gemisbraucht habe, die er nun nicht mehr bedürfe, so süß sie ihm auch sei. Er habe daher Anstalten getroffen, sich in die Stadt bringen zu lassen, und bitte sie, seinen innigen Dank für ihre unvergeßliche Freundlichkeit und Milde, und – sein Lebewohl anzunehmen.

Erna schien betroffen. Verlegen, da ihr keine Gründe einfielen, ihn zurückzuhalten, machte sie ihn leise darauf aufmerksam, daß es Linovsky befremden werde, ihn nicht mehr zu finden.

Dieser, der sein diplomatisches Büreau in der Stadt hatte, und jeden Morgen dort seinen Geschäften widmete, war bereits in aller Frühe dahin gegangen. Aber Alexander erwiederte, daß er den ersten Ausgang, welchen er sich in der Stadt erlauben dürfe, benutzen werde, um auch ihm den Dank für seine gütige Aufnahme, den er ihm schuldig sei, persönlich darzubringen, und daß er sie ersuche, ihn einstweilen ihrem Gemahl bestens zu empfehlen, und seine plötzliche Entfernung mit manchen unvorhergesehenen Umständen zu entschuldigen, die ihn unerwartet jetzt nöthigten, sich von einem so liebenswürdigen Zirkel zu trennen.[216]

Erna war bewegt, aber sie wandte nichts mehr gegen seinen fest ausgesprochenen Vorsatz ein, sondern drückte ihn nur in wenigen, aber herzlichen Worten aus, wie leid es ihr sei, seine Pflege nicht vollenden zu sollen, und daß sie hoffe, er werde eben so sorgsam über sich wachen, als wenn ihr Auge noch sein Thun und Treiben beobachten könne.

Der kleine Otto aber, der sich mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an ihn geheftet hatte, und fast nicht mehr von seiner Seite gekommen war, wollte seine Abreise durchaus nicht zugeben. Weinend und bittend hing er an ihm, und aller Trost des baldigen Wiedersehens, den seine gerührte Mutter ihm zuflüsterte, alle Versprechungen lockenden Spielzeugs, das Alexander ihm bei seinem nächsten Besuch mitzubringen gelobte, konnte seine heißen Thränen, seine schmerzlichen Klagen nicht stillen.

Ergriffen von der warmen Anhänglichkeit des Knaben, hob Alexander ihn auf, und drückte, sanft ihn beschwichtigend, ihn an seine Brust. Indem schaute er Erna an – ihr Blick traf wie ein zündender Blitz den seinen. Ein unaussprechlicher Ausdruck von Wehmuth, Innigkeit und mühsam bezwungener Trauer glänzte in ihm, bis Perlen wie lichter Thau sich um die funkelnden Sterne sammelten, die er nun nicht mehr sehen[217] sollte, und die allein des Daseyns Nacht ihm zu erleuchten vermochten. –

Da konnte er seinen Gefühlen nicht länger gebieten. Der Wagen, den Benedikt aus der Stadt gebracht hatte, hielt vor der Thür, und mahnte ihn an die Nähe des unvermeidlichen Scheidens. Er gab der Mutter ihr weinendes Kind, und als sie noch einmal im flehenden Tone tieferschütterter Theilnahme ihn bat, doch sich recht zu schonen, und seine Wunden gut zu pflegen, schlug er sich heftig an die Stirn, indem er ausrief: diese werden wohl heilen, die im Herzen aber nie! – Mit diesen Worten eilte er hinweg, sich in den Wagen werfend. Unwillkührlich, wie es schien, war Erna ihm bis zur Hausflur gefolgt, und als er noch einen Moment verweilen mußte, da Benedikt's Sorgsamkeit sich es nicht nehmen ließ, ihn gegen seinen Willen auf das vorsichtigste zu umhüllen, um ihn gegen alle rauhen und stoßenden Bewegungen des Wagens zu verwahren, erblickte er sie in einen Sessel hingesunken, ihr liebes Antlitz mit ihrem Tuche bedeckt, und Otto, dessen kindliche Aufmerksamkeit nun von seiner Entfernung abgezogen, sich zu ihr hingewandt hatte, und der, noch immer weinend, sich bemühte, an ihr emporzuklettern.

In diesem Augenblick, der ihn den letzten[218] Ueberrest besonnener Fassung raubte, hieb der Kutscher zum Glück auf die Pferde, die ihn in raschen Trab von dannen zogen. Ihm war, als erwache er aus einem Traume, und als habe das Verhängnis die Zügel ergriffen, und lenke mit jener geheimnisvollen Macht, der nichts widersteht, ihn gerade in der Secunde vom Rande des Abgrundes hinweg, in der er nahe daran war, sich selbst zu vergessen.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 215-219.
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