XVII

[54] So lange sich ihre Mutter noch nicht völlig erholt hatte, widmete Erna sich ganz ihrer Pflege. Nur dann und wann holte sie sich aus dem Nebenzimmer, wo Alexander sehr oft Augusten Gesellschaft leistete, einen stärkenden Blick von ihm, oder einen erquickenden Händedruck.

Er benutzte indeß mit kluger Vorsicht diese Zeit, um sich der Ausführung seines Plans zu nähern, indem er in Augusten, die so gern um Erna's willen an ihn glaubte, allmählich die Stützen untergrub, auf denen ihre Achtung für ihn ruhte.

Leise und unvermerkt leitete er das Gespräch auf das Leben in großen Städten und schilderte die Verdorbenheit der Sitten dort mit einem Feuer,[54] das nicht an dem Abscheu vor solcher Gesunkenheit, sondern am sichtlichen Wohlgefallen daran entzündet zu seyn schien.

Man verlangt von der guten Gesellschaft nur dreierlei, sagte er einst, als Erna ihm zuhörte. Ein feines Benehmen, einen eleganten Ton, und eine Art von Ansehn, das sich entweder auf Geburt, Rang und Einfluß, oder auf Reichthum, Geist, oder persönliche Annehmlichkeiten gründet.

Ein fleckenloses Leben ist keineswegs nöthig um mit Auszeichnung behandelt zu werden – ja oft wirft es sogar auf den, der es übt, das schlimmste Licht, in dem ein Mensch von gutem Ton erscheinen kann, nämlich: das Ridicül. Tackt für das Schickliche, Witz, gute Laune, Dreistigkeit, und die Gabe jede Rolle mit Gewandtheit zu spielen, die der Augenblick nöthig macht – dies ersetzt reichlich die sogenannten Verdienste, und eine leichte, selbst leichtfertige Aufführung wird freundlich von der großen Welt verziehen, wenn sie nur mit geselliger Anmuth und dem Schein der Decenz verbunden ist.

Erstaunt hörte Erna ihm zu. Sie glaubte, er scherze, oder er wolle Augustens feste Grundsätze, die auch ihr zur Richtschnur ihres Lebens dienten, auf die Probe stellen. Aber er sah so ernst aus – die wärmste Ueberzeugung schien aus ihm zu sprechen, und ihr wurde ganz unheimlich,[55] während ihr Herz mit ängstlichen Ahnungen kämpfte.

Und als sie schüchtern den Einwurf wagte, daß der beobachtete Schein der Decenz einem unverdorbenen Gemüth unmöglich genügen könne – daß ein ächt religiöser Sinn nicht in dem durch Täuschung erschlichenen Beifall der Welt, sondern in der Reinheit seines Bewußtseyns, und in dem gewissenhaftesten Befolgen der Gebote der strengsten Sittlichkeit wahre Befriedigung zu finden vermöge, lächelte er sie mit jenem gutmüthig sich überhebenden Gemisch von Ironie und freundlichen Bedauerns an, wie man die ungereimten Einfälle eines Kindes zu belächeln pflegt.

Allerdings, versetzte er, sind dies die Regeln, welche Präceptor und Gouvernante in früher Jugend uns sclavisch einzuprägen suchen – aber wie bald reibt das wirkliche Leben diesen Rost der Schulmoral von uns ab, und dann erst treten wir aus langweiliger Unbemerktheit hervor, und fangen an zu glänzen.

Um comme il faut zu seyn, muß man die Form jener liebenswürdigen Tugenden annehmen, die vielleicht früher wirklich existirten, jetzt aber nur einen trügerischen Wiederschein in der Seele des Menschen zurückgelassen haben, wie der blaue Himmel im Teiche sich spiegelt, ohne darum Himmel zu seyn. Milde, Nachsicht, Güte, Bescheidenheit,[56] und wie die guten Eigenschaften weiter heißen, die uns in unserer Kindheit gepredigt werden, müssen stets die eigentliche bittere Pille des Gemüths vergolden. Denn beißende Ausfälle, Lästerungen und sinnliche Vertraulichkeiten dürfen sich nicht ungestraft in ihrer Nacktheit sehen lassen – sie müssen durch irgend eine mildernde Hülle sanft verschleiert, durch Witz, treffenden Scharfsinn und den Anschein einer anständigen Schicklichkeit erst autorisirt werden, in der guten Gesellschaft zu erscheinen.

Wenn es so ist, sagte Erna mit ihrer Angst ringend, so ist die Zurückgezogenheit des Landlebens ja ein zwiefaches Glück. Nicht nur, daß in ihm die Natur uns näher ist, und uns inniger mit Gott verbindet, als all das bunte Treiben in der Welt – wir bedürfen auch, selbst wenn wir ihre Anwendung nicht verschmähten, jener armseligen Kunstgriffe nicht, die dazu dienen ohne innern Werth zu schimmern.

Sie sind noch so neu in der Welt, meine holde Erna, erwiederte Alexander jene ironische Miene beibehaltend, die ihm so übel kleidete, indem sie ihm ein höhnisches Ansehn gab, daß ich Ihnen Ihr übereiltes Urtheil verzeihe. Daß uns der Umgang mit Schafen, Hühnern und Pflanzen allerdings bis zum Langweiligwerden unschuldig erhält, ist freilich, wenn Sie wollen, ein Vorzug[57] des Landlebens, den aber der gebildetere Sinn weder begehrt noch beneidet. Daß unser Daseyn ein Lustspiel für uns, ein Schauspiel für andere, und für niemanden ein Trauerspiel sei, ist, wie mir scheint, der vernünftige Zweck, den die Natur uns vorzeichnet, und um ihn zu erreichen, dürfen wir gern links und rechts die Blumen pflücken, die an unserm Wege blühn, wenn auch die kalte, engherzige Moral, die im Geschmack der Cartheuser uns memento mori predigt, nicht eben uns Beifall winkt. So wenig, als gründliche Kenntnisse nöthig sind, um in wissenschaftlicher Hinsicht zu glänzen, da das Gesetz der feinen Lebensart fordert, daß man keinen Gegenstand erschöpfe, und blos verlangt, daß man die Oberfläche eines jeden leicht berühre, um mit Gewandtheit und Eleganz darüber hinzugleiten, eben so wenig sind diese mürrischen, frostigen Tugenden, die man als Freudenstörer der Jugend uns früh zu verehren zwingt, nöthig, um uns die Achtung zu erwerben, die wir zu einer angenehmen Existenz bedürfen. Wenn wir nur den Schein derselben, da wo es gilt, zu beobachten wissen, um unseren Abentheuern, Intriguen und Genüssen ein ehrbares Gewand zu geben, so richtet die Welt milde, mag es auch im Innern aussehn, wie es will.

Und sollte es nicht unsere Pflicht seyn, auf[58] einen höheren Richter zu achten, als auf das seichte, durch Trug und Lüge, und Blendwerke aller Art befangene Urtheil der Welt? unterbrach ihn Erna. Sollte nicht der Glaube an Gott, an die Nichtigkeit alles Irrdischen, und die Gewißheit einer Zukunft, wo kein Schein mehr gilt, uns über das unwürdige Bestreben erheben können, den Beifall der Menschen zu erlangen, ohne ihn verdienen zu wollen?

Mit dem schärfsten Ausdruck des Spottes zu dem er seine Züge nur immer zwingen konnte, lächelte Alexander zu ihrer inneren Empörung. Es ist recht gut für das Volk, sagte er, das solcher Zügel bedarf, wenn man ihm weis macht, daß ein höheres Wesen, und ein zukünftiges Leben jenseits des Grabes existirt. Denn wie das unverständige Kind die Züchtigung fürchtet, die eine Folge seiner Unarten ist, so scheut auch der uncultivirte, bornirte Sinn des gemeinen Mannes die moralische Ruthe, die in der Vorstellung einer ewigen Verdammniß oder Seeligkeit liegt, und manches Böse unterbleibt auf diese Weise aus Furcht vor der Strafe. Wir aber, die wir auf einer höheren Stufe der Aufklärung stehen, und Vorurtheile, wie billig, verachten – warum sollten wir uns überreden, an Phantome zu glauben, die nur in überreitzten, fanatischen Gehirnen entsprungen,[59] eine menschliche Erfindung, und blos der Schwärmerei heilig sind?

Und sind dies wirklich Ihre Grundsätze? fragte Erna, zur Marmorbüste erblaßt.

Ja, versetzte er, indem er ihre kalte, zitternde Hand ergriff. Ich halte es für Pflicht, mich Ihnen zu zeigen, wie ich bin, da ich Sie liebe, und von Ihrem Besitz das Glück meines Lebens hoffe. Warum, reizende Erna, sollt' ich verhehlen, daß meine Vernunft längst den Sieg über jene Schreckgestalten davon getragen hat, mit deren Strafgericht eine sogenannte religiöse Erziehung uns zu ängstigen bemüht ist. Ich glaube an keine Fortdauer der Seele, und an kein Jenseits, und darum genieß' ich auch das Leben als das einzig wahre Gut, das wir besitzen, das jeder Augenblick vernichtend in das Nichts zurückstürzen kann, aus dem es entstand. Lassen Sie uns nicht in idealischen Gefilden schwärmen, wo nur sich selbst quälende Phantasten zu Hause sind, sondern erlauben Sie mir, Sie aus der ätherischen, unhaltbaren Region Ihres Wahns in die Wirklichkeit herab zu führen. Genuß des schäumenden Jugendbechers und ein fröhliches Verbannen aller schwerfälligen Sorgen ist die wahre Philosophie, die einzige Religion, zu der ich mich bekenne, und Sie von Ihren finsteren Irrthümern zu befreien, und Ihr Daseyn[60] an meiner Seite so heiter wie möglich zu machen, soll das süßeste Ziel meines Strebens seyn.

Erna schauderte, und bebte zurück. Er wagte es, seinen Arm um ihren Nacken zu schlingen und sie an seine Brust zu ziehen. Da ermannte sie sich plötzlich – glühende Röthe verdrängte die Leichenblässe ihres Gesichts, und es stiegen wieder Funken in ihr starres Auge. Den Blick nach oben gerichtet, als wolle sie von da Kraft und Fassung sich erflehen, wandte sie sich nach einer stummen, aber unendlich ausdrucksvollen Minute von ihm ab, mit dumpfer, fast tonloser Stimme die Worte aussprechend: Unglücklicher! Gott helfe Ihnen wieder auf den rechten Weg, und vergeb es Ihnen, daß Sie mich so lange täuschten. Wir haben uns nichts mehr im Leben zu sagen.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 54-61.
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