XIX

[64] So lange Erna wähnte, ein schwerer Traum habe sie dem Himmel ihrer Hoffnung entrückt, so lange ruhte der wohlthätige Nebel der Betäubung, nicht das Centnergewicht der Verzweiflung auf ihrer Seele.

Als aber nach und nach Klarheit wieder in ihre Besinnung zurückkehrte, und sie sich nicht mehr verhehlen konnte, daß sie wirklich auf immer von dem Ideal ihres höchsten Glücks geschieden sei, da bemächtigte sich ihrer ein Schmerz, der ihr armes Leben aller seiner Blüthen beraubte.

Wenn gleich ein dunkles Gefühl ihr sagte, sie müsse den Kummer verbergen, unter dessen Druck sie fast erlag, um ihre Mutter zu schonen, so vereitelte die Unfähigkeit, sich zu verstellen, und die Neuheit einer solchen Bürde doch ihr inniges Streben, allein zu tragen, was der freie Blick in das Herz des Jünglings, den sie liebte, ihr auferlegt hatte. Aus ihrem Daseyn war das Paradies verschwunden – das Schöne aus ihren Träumen[64] – das Göttliche aus ihrer Hoffnung. Denn wie ein Blitz, ungeahnet und unbegriffen, von wannen? woher? war die Liebe aus des Himmels Höhen in ihr Gemüth gesunken, aber nicht, wie sie in frommer Kindlichkeit geglaubt hatte, um es zu erwärmen, und zu erhellen, sondern um jede Kraft zu lähmen, jede Freudigkeit zu vernichten. Sie befragte sich selbst in der Bangigkeit ihrer Zweifel, ob es Gottes Hand sei, die diese schwere, dunkle Wolke über ihr Leben herauf führte, oder der Dämon eigner Schuld – aber ihr Bewußtseyn war rein, und warf ihr nur ein zu blindes, nur so bitter hintergangenes Vertrauen, nur eine zu innige, jetzt so grausam getäuschte Neigung, keinen Fehler vor, der Alexanders rauhes Abwenden von ihr hätte rechtfertigen können.

Der Sturm, den betrogener Glaube, gemisbrauchtes Zutrauen, und das unheilbare Gift einer ewigen Hoffnungslosigkeit in ihrer Seele erregt hatte, näherte sie fast dem Wahnsinn, indem er ihre körperliche Kraft sichtbar aufrieb.

Ihre Mutter, die nur durch Augusten, nicht durch die von der Größe ihres Schmerzes verschloßnen Lippen ihres Kindes das Vorgefallene erfuhr, vergaß der eignen Leiden, um den Kummer der geliebten Tochter lindern und tragen zu helfen.[65]

Längst hatten ihr die Aerzte bei der Zartheit ihrer Constitution einen Aufenthalt in südlichen Ländern verordnet. Aber die Beschwerden einer so weiten Reise, das Gefühl ihrer Schwäche, die Anhänglichkeit an ihren Wohnort und an den freundlichen Kreis, der sie dort umgab, und so manche Schwierigkeiten mehr, die der Kränkliche mühsam überwindet, weil er, der Energie und des Muthes beraubt, leicht in der spielenden Mücke einen drohenden Elephanten erblickt, hatten sie bisher abgehalten, um ihrentwillen diesen heilsamen Rath zu befolgen.

Aber kaum hatte man ihr gesagt, daß Erna, krank an Leib und Seele, der Zerstreuung und einer mildern Luft bedürfe, um zu genesen, als das liebevolle Mutterherz Entschlossenheit genug in sich fand, allen Hindernissen Trotz zu bieten.

Mit einer Eil, die sich selbst nicht Ruhe vergönnte, wurden die Anstalten zur Abreise betrieben. Seit Jahren in einem völlig leidenden Zustand, und aller Thätigkeit entwöhnt, überließ sie sich jetzt einer so eifrigen Betriebsamkeit, daß sie gleichsam in diesem Streben noch einmal wieder aufglühte, wie die hinsterbende Lampe kurz vor dem Erlöschen höher aufflackert.

Denn sie konnte die Sorge für das Mittel, durch welches sie ihr größtes Kleinod zu retten[66] hoffte, niemand, sogar der treuen Auguste nicht überlassen und die mühevollsten Anstrengungen, deren sie sich unterzog, gaben durch ihren heiligen Zweck ihren erschlafften Nerven wieder Spannung, ihrem hinfälligen Körper wieder Kraft.

Sie ordnete alles selbst, und da sie weder Mühe noch Geld sparte, so war das Ziel ihres Strebens bald erreicht, und wenig Wochen nach der Catastrophe, die Erna's Herz brach, rollte der schwer beladene Reisewagen bereits mit ihr dem freundlichen Süden zu.

Die Generalin blickte weinend ihrer alten Freundin nach. War es die Ahnung, daß sie sie niemals wieder sehen werde, war es ein innerer Vorwurf, daß ihr voreiliger Wunsch, Erna zum Schutzgeist ihres Brudersohns zu weihen, die Veranlassung so herben Kummers für diese und ihre Mutter geworden war, und sie selbst des liebsten Umgangs beraubte – genug sie konnte sich der tiefsten Traurigkeit nicht erwehren.

Nach reiflicher Ueberlegung, und genauer Prüfung des Vorgefallenen, das schmerzlicher noch in Erna's Thränen, als in Augustens Mit heilungen sich aussprach, glaubte sie ihren Neffen richtig zu beurtheilen, wenn sie meinte, er habe, um sie nicht zu erzürnen, scheinbar in ihr Verlangen eingehn wollen, habe in der Langenweile seiner einförmigen[67] Lebensweise bei ihr wirklich für eine kurze Zeit befriedigende Unterhaltung im Wahrnehmen der ihm so neuen, himmlischen Unschuld Erna's gefunden – endlich aber wie ein wildes Roß nach zügelloser Freiheit sich sehnt, und Zaum und Gebiß flieht, die immer leiser sich zuziehende Schlinge eines ernster werdenden Verhältnisses durch einen Gewaltstreich zerreissen wollen, indem er Gesinnungen äußerte, von denen er wußte, sie würden ihn der frommen Erna entfremden.

Er gewann jedoch keineswegs dadurch in ihren Augen, daß sie ihn sich eigentlich besser dachte als er selbst sich darzustellen bemüht gewesen war. Weit lieber hätte sie ihn als einen Verirrten beklagen, wie als einen Heuchler verachten mögen. Die kleinliche List, mit der er die Folgen seiner herzlosen Annäherung zu vertilgen suchte, und das leichtsinnige Spiel, das er mit einem der besten Mädchen getrieben, wandten in gerechtem Unmuth ihre Neigung von ihm ab, und sie gewann es nicht über sich während des kurzen Rests ihres Lebens, ihn, als ihr diese Ansicht völlig klar geworden war, je wieder eines freundlichen Worts zu würdigen. Seine Briefe blieben stets unbeantwortet, und kein Zeichen ihres Seyns und ihrer Theilnahme an seinem Geschick suchte, wie sonst, ihn in der Ferne zu erfreuen. Sie traf[68] jedoch, um das Andenken eines geliebten Bruders auch noch in seinem unwürdigen Sohne zu ehren, keine Anstalten, ihn das Vermögen zu entziehen, das nach ihrem Tode die Gesetze ihm, als ihrem nächsten Erben zuerkannten, und zwei Jahre nachher setzte ihn ihr sanftes Hinscheiden in den freien und rechtmäßigen Besitz desselben.[69]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 64-70.
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