Sechszehntes Kapitel.

Von Urmenschen und großen Menschen im Schlafrock.

[111] »Verfluchter Junge!« entschlüpfte es ihm, indem er sich umdrehend die Hand erhob. »Jean, oder warst Du es, Jacques! Du siehst doch, ich bin nicht allein.«

Statt der Antwort flog ein neuer Steinhagel. Er kam aus den Aesten einer der Ulmen, die in einiger Entfernung durch ein seichtes Wasser von ihnen getrennt in einer Gruppe Buschwerk standen. Bovillards Lorgnette entdeckte in den Aesten einen der Knaben des Ministers, einen andern am Ufer als wilder Mann kostümirt. Dieser schrie, auf seine Keule gestützt, in unartikulirten Tönen, deren leicht verständlicher Sinn war, daß sie Riesen oder Waldmenschen wären, denen dieser Wald gehöre, und daß kein Fremdling aus der feigen, schwächlichen Menschenrace sich in ihr Territorium ungestraft verirren dürfe.

»Da werden wir wohl unterhandeln müssen, lieber Bovillard.«

»Ah, Dero Herren Söhne – spielen Ritter.«

»Die Passion ist vorbei, sie wollen nichts als Menschen, Urmenschen sein. Na, Jean, Jacques, sagt, was wollt Ihr denn von uns?«

»Jean! Jacques! Sind Ihnen Ihre Taufnamen Hugo und Busso nicht urmenschlich genug?«

»Eine Passion meiner Frau.« Der Minister verneigte sich: »Also Ihr großmächtigen Herren der Insel und Gebietiger des Waldes, was fordert Ihr von uns armen Menschenkindern, damit wir unter Eurer Gnade einen ungehinderten Durchweg haben?«

Während die Knaben dies »freche Ansinnen,« wie sie es nannten, in Ueberlegung ziehen wollten, und dazu der eine Waldmensch vom Baume herabrutschte, hatte Bovillard Zeit, die Insel zu betrachten, von deren Existenz er noch nichts wusste. Sie war sichtlich erst vor Kurzem gegraben, so wie die künstliche Höhle, aufgeschüttet von Erdreich, Aesten und Moos, mit rohem Tisch und Bänken, und ein schadhaftes Bärenfell, das am Eingang hing, verrieth an seiner Furnitur, daß es von irgend einem Liebhabertheater stammte.

Der Riese, indem er den Blätterkranz auf der Stirn zurecht rückte, während der Andere das Bärenfell auf die Erde breitete und[111] sich in malerischer Position hinwarf, stellte nun in einer schwulstigen Knabenrede an die jämmerlichen Wichte und elenden Kreaturen der Civilisation seine Forderungen und Vorstellungen: daß sie, die auf Lotterbetten lägen und den Gaumen kitzelten mit feinen Weinen und Speisen, ihnen, den Waldmenschen, die auf Wurzeln schliefen und von Eicheln lebten, ihr Trank das klare Quellwasser, ihr Becher die Hand, nicht einmal ihr letztes Asyl, die Waldwildniß gönnten. Wohl kennten sie, die Urmenschen, die Arglist ihrer Verfolger, die ihnen die Erde entrissen, und sie wilde Männer schalten, und daß sie nur kämen, um sie auszukundschaften und durch gleisnerische Worte zu betrügen. Eigentlich sollten sie nun zu ihrer Rettung die verrätherischen Spione der Kulturmenschen vernichten, aber die Waldmenschen wären großmüthiger, sie wollten ihre Hände nicht mit ihrem Blute besudeln, denn Allvater rausche in den Eichen über ihnen: Lasst sie noch diesmal laufen! Darum möchten sie noch diesmal laufen, mit geduckten Köpfen, die Hände auf dem Rücken, laufen, was sie könnten, denn wenn sie bis zwölf gezählt, würden sie Felsstücke auf ihre Schädel nachschleudern.

»C'est bien joli!« sagte der Geheimrath und klopfte den Staub von den Füßen, als sie außer Athem die Büsche erreicht.

»Ein prächtiger Junge!«

»Aber wie kamen sie auf die Idee?«

»Ganz ihre eigene. Das ist es eben, was mich freut. Auf einem Spaziergange im Thiergarten sprach meine Frau beim Anblick der Rousseau-Insel einige gefühlvolle Worte. Die Jungen schnappten es auf: wir mussten ihnen erklären, wer Rousseau gewesen, es kam dazu, daß sie vor Kurzem den Robinson gelesen – kurz die Jungen wollten als Einsiedler auf einer Insel leben. Sie glauben nicht, mit welchem Scharfsinn sie argumentirten. Wir riskirten, daß die Kinder uns eines Morgens fortliefen und nach der Rousseau-Insel wateten. Um den Skandal zu verhindern, ließ ich ihnen diese hier graben. Es gab eine angenehme Beschäftigung, und jetzt muß ich wirklich ihre Perseverance admiriren, mit der sie sich auf der Insel –«

»Ennuyiren,« fiel der Geheimrath ein.

Es trat eine Pause ein. Der Minister hub wieder an: »Ich gebe Ihnen zu, Bovillard, wir erscheinen als Kinder, indem wir dies unterstützen. Ich gebe Ihnen noch mehr zu, meine ganze in einer großen Stadt hervorgezauberte Ländlichkeit ist auch nur ein Kinderspiel; wer aber hielte es aus ohne ein Spiel der Phantasie! Nur darin ist der Unterschied, daß die Einen es wie ein joujou de la Normandie in die Hand nehmen, um es aufzurollen und wieder fallen zu lassen. Wir Andere vertiefen uns, glücklich wenn wir in dem Spiel uns selbst vergessen.«[112]

»Die Tiefe Ihres Sentiments, Excellenz, wird Ihnen Niemand abstreiten.«

»Sagen Sie lieber Innigkeit, Zärtlichkeit, wie Sie wollen. Ich empfinde es tiefer als Viele, was uns Alle ermattet. Wie es um uns her grau ist, abgelebt aussieht, wie auf einem Stoppelfelde! Was ging nicht unter! Unsere Adelsherrlichkeit, unsere Schlösser und Burgen! Der Lüster unserer Salons! Das heilige Römische Reich folgte unserem Glauben an seine Herrlichkeit. Was ist unsere Philosophie, unsere Gelehrsamkeit, selbst unsere Poesie und Literatur, die kaum aufgeblühten, die kaum das Ausland zu observiren schien – ils sont passés ces jours de fête, denn selbst dem vergötterten Schiller zupfen die jungen Romantiker seine Schwanenfedern aus.«

»Excellenz, ein anderer Mathisson! Elegieen auf die Ruinen einer verfallenen Welt!«

»Durchrieselt uns nicht Alle das Gefühl eines inneren Zerfalls der Dinge! Unsere Kultur, unsere Industrie, Politik, vielleicht selbst unsere Population, alle zuweit getrieben, schmachten nach einer Rekreation.«

Durch den Buschweg, den sie nach dem Hause einschlugen, kam ihnen der Kammerdiener mit einem verdeckten Korbe entgegen: »Ah, Rekreationen, die uns die Frau Ministerin schickt!« rief Bovillard, der hungrig geworden, und schlug die Serviette zurück. Die frischen Kirschkuchen und das Gelée in Gläsern blickten ihm nicht unangenehm entgegen, aber der Kammerdiener zog den Korb entschieden zurück: »Verzeihn Sie gnädiger Herr, das ist für die Herren Urmenschen auf der Insel. Ich habe mich etwas verspätet.«

»Gedulden Sie sich etwas, lieber Bovillard. Für Ihren Geschmack sind doch nicht diese idyllschen Fruchtgenüsse. Aber ich will Ihnen eine allerliebste kleine Straßburgerin vorsetzen,« lächelte die Excellenz. »Wenn auch nicht ganz Unschuld, doch sehr pikant, und eben frisch angekommen.«

»Die Damen bleiben doch die Blüthen der Natur,« entgegnete der Geheimrath, »ich meine aber die in der Mitte zwischen Gänseblumen und verwelkten Tulpen.«

Bei einer Oeffnung der Büsche hatten die Spaziergänger einen Blick auf die Rückseite der sogenannten Insel. Der Kammerdiener hatte auf einer Stange den Erfrischungskorb hinüber gereicht. Die Urmenschen hielten es für naturgemäß, sich darum zu balgen. Der stärkere stemmte den Kopf gegen den Bauch des andern und hob ihn durch einen gymnastischen Schwung auf die Schultern.

Bovillard lachte, der Minister glaubte eine Erklärung oder Entschuldigung geben zu müssen. Die Kinder glaubten nur, es den wilden Thieren nachthun zu müssen, wenn ihnen das Fressen[113] vorgeworfen wird; übrigens liebten sie sich als Brüder und würden nachher schon gerecht theilen.

»Ich lache nicht darüber, mir kam nur eine Szene bei Rietz in den Sinn.«

»Bei Rietz,« wiederholte der Minister nachsinnend.

Um des Geheimrathes Lippen schwebte ein faunisches Lächeln: »Excellenz werden sich vielleicht noch der Jenny erinnern. Sie sang uns da die Marseillaise entzückend schön. Während wir klatschten, rief sie mit einem Mal: ça ira! und mit einem Satz vom Stuhl auf den Tisch! Schenkt ein! rief das delicieuse Wesen, und nur auf einem Zeh schwebend, hob sie das schäumende Glas: Vive la liberté! Ohne einen Tropfen zu vergießen, trank sie's aus. Eine Grazie, wie eine Göttin, wie sie zwischen den Flaschen schwebte, das leichte Mousselinkleid in antiken Falten, den Rosazephyr um ihren Nacken, und ihr Teint von der Freude, vom Wein angeröthet. So tanzte sie, nein, es war kein Tanz, es war doch ein Hinsäuseln der ätherischen Freude über die Tafel. Kein Glas fiel um. Die ganze Gesellschaft außer sich, wir mussten ihre Füße küssen.« Der Minister hatte unwillkürlich den Kopf gesenkt. Bovillard fuhr fort: »Einer unserer verehrten Freunde, erinnere ich mich noch sehr wohl, war so benommen von olympischer Lust, daß er sich die Weste aufriß und das Füßchen an sein pochendes Herz drückte. Darüber verlor die Grazie das Uebergewicht, und ehe wir's uns versahen, umfasste er sie und trug sie fort.«

Bovillard sah nicht, wie der Minister mit der Hand abwehrend winkte. »Wie die Najade sich schalkhaft sträubte, ihr Zephyr flatterte, eine Attitüde, Excellenz, ich wünschte, Sie hätten es sehen können. Das war doch ein Jubel, eine Admiration! ›Der Sabinerinnen Raub!‹ wie aus einem Munde scholl's. ›Ein leibhafter Johann von Bologna!‹«

»Was öffnen Sie die Gräber der Vergangenheit, Bovillard! Ich ward ein schlichter Hausmann.«

»War's denn was Böses?«

»Eine Verirrung doch wohl, liebster Freund. Das müssen wir zugeben, aber die edelsten Empfindungen lagen zum Grunde. Es war mir oft so wie in der Brüdergemeinde. Aller Schein, aller Standesunterschied, das Drückende unsrer Verhältnisse sinkt wie ein Schleier. Der Bruder- und Schwesterkuß drückt das Siegel der Humanität, der edlen Gleichheit auf unsre Lippen, und nun fallen mit den Titeln alle beengenden Rücksichten fort. Man fühlt sich wieder in der Natur, dem Ursprünglichen näher gerückt, das Herz geht auf, man schließt es unwillkürlich weiter auf, vielleicht weiter als man sollte – aber es ist ja eben dieser Drang, der uns glücklich macht.«[114]

Der Geheimrath blieb einen Augenblick stehen: »Ich besorge, daß Excellenz an jenem Abend Ihr Herz zu weit aufgeschlossen haben. Die Jenny war ein pfiffiges Ding.«

»Ich wüsste doch nicht –«

»Das glaube ich gern. Der Champagner bei Rietz war immer première qualité. Aber erinnern sich Excellenz, daß damals die hannöversche Geschichte spielte – man schickte einen Courier nach, um eine gewisse Depesche coûte que coûte zurückzuholen. Die Jenny, wenn sie noch lebt, wird das freilich längst vergessen haben, aber –«

»Wem könnt' ich sonst –«

»Nicht Excellenz, aber die Jenny. Als sie nach Hause fuhren, stahl sich Lupinus zu ihr. Ich bin nicht bei ihrer Entrevue gewesen, noch habe ich, Gott bewahre, mein Ohr ans Schlüsselloch gelegt, aber ich weiß nur, daß auch sie von allen beengenden Rücksichten sich frei, sich wieder in der Natur fühlte, dem Ursprünglichen näher gerückt, daß sie ihr Herz auch aufschloß –«

»Dem Lupinus, Pfui!«

»Der Schwesterkuß drückte das Siegel der edlen Gleichheit Allen auf. Ich will auch nicht verschwören, daß nicht die undankbare Schelmin Ew. Excellenz etwas raillirt hat. Der Sillery hatte sie, wie gesagt, auch animirt, und statt die Mysterien der süßen Stunde in ihrer Brust zu verschließen, machte sie sich über den Minister lustig, der ihr zu Füßen gestürzt, ihre Knie umfasst, und geschworen hatte, vor solcher Huld und Grazie etwas Geheimes auf der Brust zu behalten, wäre Sünde. Wie die Sonne die Knospe entfalte, müsse das Herz sich erschließen vor der Schönheit. – Excellenz, solche Geschöpfe sind launenhaft, unberechenbar. Sie hatte sich vielleicht bei den politischen Herzensergießungen etwas ennuyirt. Nun musste sie gegen den ersten, besten, den sie sah, auch ihr Herz und ihr Lachen ausschütten. Wie gesagt, was die Jenny betrifft, sie hat alles ausgeschüttet, aber – ich weiß nur aus manchen gelegentlichen Redensarten, daß der Geheimrath manche dieser Reminiscenzen eingeschachtelt hat.«

Es folgte eine lange Pause, in welcher im Minister Vielerlei vorging. Sie setzten sich auf eine beschattete Bank, mit der Aussicht auf einen Wiesenplan und das Haus. Ihr Gespräch war noch nicht zu Ende; das fühlte sich von beiden Seiten heraus, wenn gleich Jeder den Anfang zu machen scheute. Der Minister saß nachdenkend, den Kopf im Arm gestützt.

»Bovillard,« hub er endlich an, »will Ihr Protegé sich rächen, vergessene Dinge ausplaudern, so trifft es nur mich! Was ist der Einzelne dem Staat gegenüber!«[115]

»Excellenz, auf der Goldwaage, auf der Lupinus zu leicht wiegt, müssten Viele springen.«

»Und wer sagt ihnen, daß sie nicht springen werden, – wenn ein Changement eintritt.«

Bovillard sah den Minister groß an: »Nach Lombards Depeschen! Die Radziwill hat sich vor Aerger krank melden lassen, die schöne Prinzeß Wilhelm schreitet wie eine heilige Katharina in stummem Zorn durch ihre Gemächer, die Garde du Corps – was weiß ich, was sie thun. Prinz Louis hat, glaube ich, ein Pferd todt geritten, und bei der Mamsell Rahel Levin ein Collegium Philosophikum aus Verzweiflung sich bestellt.«

»Sind damit Ihre Novitäten zu Ende?«

»Der Einfluß der auswärtigen Mächte ist damit paralysirt.«

»Wer denkt an das! – Im Innern droht der Feind, Bovillard – Stein wird ins Ministerium treten.«

»Der Freiherr von Stein!«

»Stein vom Stein!«

Der Geheimrath war ein Mann, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ. Der Minister konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er sein verlängertes Gesicht sah.

»Wer hätte es noch vorgestern erwartet! Man hat dem Könige seine außerordentlichen Verdienste in Westphalen, seine Rechtschaffenheit, seinen graden Sinn, seine hohe Geburt unterbreitet, man hat –«

»Wer?«

»Ein guter Freund von uns, Bovillard. Wer anders als Beyme.«

»Ist Beyme toll?«

»Man sagt, er hätte zuweilen Gewissensskrupel, daß er sich uns so unbedingt anschließt.«

»Die Schrullen vom Kammergericht. Was habe ich mir Mühe gegeben, ihn davon los zu bringen.«

»Es ist mit den Juristen, wie mit Ihren Puppen und Vogelscheuchen, Bovillard. In der Regel sind sie trefflich zu nutzen, wenn man ihr Formelwesen sich zum Panzer ajustirt, wenn sie aber widerborstig werden, sind sie Stacheln in unserm Fleisch. Beyme hat den Vortrag an den König aufgesetzt.«

»Und hinter ihm diktirte –? Wer, bester Freund, könnte unsere Aufmerksamkeit so getäuscht haben! Hardenberg?«

»Wird ihn vielleicht nicht grade wünschen, aber noch mehr fürchten, daß er ihn zu fürchten scheinen könnte. Hardenberg ist ein Spekulant auf die Zukunft, der sich um deßwillen den Genuß der Gegenwart nicht will trüben lassen. Er möchte gern aus der Vogelperspektive die Dinge betrachten, um, wenn seine Zeit gekommen,[116] auf seine Beute herabzuschießen. Daß die Zeit jetzt für ihn noch nicht da ist, sieht er ein.«

»Aber wer in aller Welt steckt hinter Beyme?«

»Wir müssen höher suchen. Einer sehr tugendhaften Frau am Hofe sind wir nicht tugendhaft genug, lieber Bovillard.«

»Der wird der Hecht im Karpfenteich,« rief der Geheimrath.

»Ja, wenn er hier agirt wie in seinem Westphalen! Ich bestreite durchaus nicht Steins Verdienste. O, er hat charmant administrirt, was Steine anbetrifft und Wege und Metalle. Nur mit den Menschen hat er eine eigenthümliche Art umzugehen.«

»Der Herr Oberpräsident waren ja ein kleiner König von Westphalen.«

»Und er wird sich hier nicht degradiren wollen. Ich sehe schon, wie er sein Bureau reformirt; das möchten wir ihm immerhin lassen, aber von seinem Finanz-Kastell aus wird er Invektiven, Aggressionen, Blitze nach allen Seiten schleudern. Der Hitzkopf kann nun einmal nicht aus seiner Natur.«

»Mit dem feinen Ton unserer Societé ist's aus. Wie war der Brief an den Herzog von Nassau, an ein regierendes Haupt! Excellenz, ich weiß Geschichten von seiner Grobheit.«

»Ich kenne sie auch und seinen Ungestüm. Er wird mit dem Könige selbst aneinander gerathen!«

»Desto besser!«

»Sagen Sie das nicht, Bovillard. Der König hält allerdings auf seine Würde. Es ist aber eben so möglich, daß er sich in seine Art fügt. Hat er sich einmal darin gefunden, eine gewisse Estime für seinen Charakter empfangen, und sieht er, daß das Staatsschiff so leidlich dabei fortsteuert, so kennen Sie ja des Monarchen Natur, die vor jeder durchgreifenden Aenderung eine Scheu hat. Selbst ihm unliebsame Personen lässt er in ihren Aemtern und am Ende gewöhnt er sich auch an das Toben seines Premiers; denn daß Stein das wird, wenn er erst einen Fußtritt im Ministerium hat, können Sie glauben.«

»Was haben wir da zu thun?« fragte der Geheimrath aufspringend.

Der Minister erhob sich langsam, es schien wie von einer schweren Sitzung.

»Wir! Nichts, Bovillard, Wir fügen uns als Philosophen in das was nicht zu ändern ist. Mich persönlich kümmert es nicht. Bedarf der König meiner Dienste nicht mehr, so danke ich ihm aufrichtig für das mir so lange geschenkte Vertrauen und singe mit ebenso aufrichtigem Herzen mein: beatus ille, qui procul negotiis und die paterna rura sollen mir doppelt willkommen sein.«

»Aber der Staat, Excellenz!«[117]

Der Minister sah ihn mit einem schlauen Blick unter den herabgezogenen Augenbrauen an: »I, der wird wohl auch ohne uns bestehen.«

Es trat eine neue Pause ein; sie gingen langsam dem Hause zu.

»Sie, und unsre Freunde allein thun mir leid. Er ist jeder Zoll ein Reichsfreiherr. Seiner Majestät Diener wird er empfinden lassen, daß ein Unterschied ist zwischen Dienern und Dienern. Er hat gar kein Hehl, daß er Lombard nicht leiden kann; ja, er hat eine recht reichsfreiherrliche Verachtung gegen den Sohn des Perrückenmachers.«

»Da werden sich ja unsre kurmärkischen Edelleute die Hände reiben.«

»Ich zweifle, ob ihnen mit dem Changement gedient ist. So ein ehemals Reichsunmittelbarer sieht mit einer eignen Verachtung auf unsre wendischen Krautjunker herab. Ich sage Ihnen, in dem Mann ist alles Aristokrat, und die Autorität, die er am Rhein verloren, muß er suchen, an der Havel wieder zu gewinnen. Von der Illusion lassen Sie ab, daß das Kabinet bleibt, was es war. Die Fiction, daß die bürgerlichen Herren Kabinetsräthe die Volkstribunen sind, wird er mit einem Hagelwetter auseinander treiben. Er kann sein gewesenes Deutschland auch als Preuße nicht vergessen, er wird eingreifen, durchgreifen, reformiren, bis – doch ich mache keine Ansprüche auf Clairvoyance. Aber, lieber Bovillard, Sie sehen ein, der Augenblick, wo Stein ans Ruder kommt, ist nicht angethan, um Ihren Geheimrath zu retabliren.«

Quelle:
Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländische Romane, Berlin: Otto Janke, 4[1881], Band 7, S. 111-118.
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