Zweiunddreißigstes Kapitel.

Iphigenia.

[271] Der Unterricht, den Walter im Lupinus'schen Hause ertheilte, war einige Tage ausgefallen, weil Mamsell Alltag sich unpässlich befand. Doch hatte der Bediente hinzugefügt, es habe nichts zu bedeuten. Walter war zufrieden, obgleich er nie zufriedener war, als wenn an den Gensd'armenthüren die Glocke schlug, die ihn zur Stunde rief; er hatte in diesen Tagen seine Arbeit fertig machen können.

Adelheid sah heute wirklich noch etwas blaß aus, aber nie hatte Walter sie reizender gesehen. Ein Häubchen umschloß ihre Locken, ein leichtes, bis unter dem Halse schließendes Morgenkleid ihre elastischen Glieder. Den griechischen Schnitt, in den die Geheimräthin sie nöthigte, hatte er nie geliebt. Der schöne Arm erschien ihm heut schöner unter dem faltigen Ueberrock, als wenn er in leuchtender Fülle aus den kurz geschnittenen Aermeln schoß. Sie war ihm rasch entgegen geeilt, sie hatte seine Hand so herzhaft gedrückt, und doch zitterte sie. Sie hatte ihr Guten Morgen nie mit einem so festen Tone gesprochen, und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte ihn herzlich angesehen, und doch sogleich wieder die Augen gesenkt.

»Wir haben viel nachzuholen, lieber van Asten,« hatte sie gesagt »darum müssen wir rasch anfangen.« Sie saß am Tisch, er ihr gegenüber. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe spielten im Sonnenschein. Der Schatten der Blätter spielte durch das geöffnete Fenster auf die Tischplatte. Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches. Daher mochte es[271] kommen, daß er sich verlas; auch sie las oft falsch. Und dazu zwitscherten die Sperlinge, gewohnt am Fenster die Krumen zu stehlen, welche Adelheids Hand ihnen hinstreute, und eine Wespe verirrte sich in die Stube und trieb Unfug, bis man sie mit den Tüchern hinausgescheucht.

Es war viel Störung in der heutigen Lektion.

Walter schlug vor, das Fenster zu schließen. Adelheid fand die freie Luft so schön, ihr sei noch so beklommen. Aber es würde schon vorübergehen – »ich werde schon Muth bekommen,« setzte sie leiser hinzu.

Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adelheid hatte den letzten Akt gelesen.

»Sie müssen mir später ein Mal die ganze Iphigenia hinter einander vorlesen, wenn Sie bei voller Stimme sind,« sagte Walter. »Das Gedicht klingt und dringt ganz ins Herz mit Ihrer schönen Stimme. Das Parzenlied –«

»Heut könnte ich es nicht lesen,« fiel Adelheid ein, »es ist zu schrecklich.«

»Für den schönen Morgen! Sie haben Recht. Wir müssen uns heut allein mit dem Charakter der Iphigenia beschäftigen. Iphigenia ist der leuchtende Gedanke der Versöhnung, der in der alten Welt wie ein Strahl auf dunklem Meere erscheint, aber er fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was die griechischen Dichter noch als einen Torso hinstellten, hat der Deutsche, der aus anderer Quelle sein Licht schöpfte, zur Erscheinung gebracht. Dieses Atridengeschlecht –«

»Um Gottes Willen,« rief Adelheid, »wie konnten die alten Dichter so etwas ersinnen! Sie sagten doch, die Griechen hätten immer der Schönheit gehuldigt und selbst dem Hässlichen wussten sie eine Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht verletzte. Wie ist es nun möglich, daß sie solche Greuel erfanden, die doch unmöglich sind?«

»Unmöglich?« fragte der Lehrer. »Die erste Geschichte des Hellenenthums ist nur eine Verkörperung des Kampfes, den die Kultur mit der Barbarei geführt. Der Barbarei ist alles möglich, und wenn der finstre religiöse Wahn hinzutritt, ist sie zu Greueln fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Ertödten wir aber Kultur, reißen wir die edle Humanität an der Wurzel aus, welche Kunst, Wissenschaft, der Geist des Christenthums jetzt durch Jahrtausende gepflanzt und gepflegt, so sinken wir Alle wieder in den Naturzustand, in die Barbarei zurück, wo die Thaten des Atreus und Thyestes möglich sind.«

Sie schauderte, vor sich niederblickend. Hatte er zuviel gesagt?

»Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht sagen, aber[272] Ihr Geist, Adelheid, ist stark. Sie selbst haben, so jung noch, Prüfungen zu überstehen gehabt, Sie haben Blicke in die wüste Verworfenheit gethan. Ist z.B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um mit Anstand noch in der Gesellschaft weiter zu erscheinen, so viel besser, als jene Barbaren, die ihrem Rachetrieb alles opferten! Und sind es die Vielen hier, welche aus falscher Empfindsamkeit die entsetzliche That beschönigten? Wissen Sie, weiß ich, welche Prüfungen auch meiner Freundin noch aufgespart sind, wie viele von denen, die sie jetzt mit Aufmerksamkeit überhäufen, die so liebenswürdig, edel, sprechen und zu handeln scheinen, Ihnen in einem ganz anderen Lichte erscheinen werden!«

Adelheid sah ihn verwundert an. Er war in Gedanken vertieft. – »Es war Unrecht von mir,« rief er plötzlich auf. »Die Vorsehung hat uns die schönen Illusionen als Pathengeschenk mitgegeben, damit wir Muth behalten. Sie selbst lüftet für Jeden nur so viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und Niemand hat das Recht, dem Andern die schirmende Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur Iphigenia zurück.«

Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tisch, sie schlug, ohne zu zaudern ein, und Beide mussten vergessen haben, daß sie eingeschlagen hatten, denn als er in seiner Rede fortfuhr, blieben die Hände noch immer auf dem Tisch.

»Das Schrecklichste hat sich nun erfüllt, das Schicksal der Atriden liegt wie ein wüster Traum im Hintergrunde. Ein sonst edler Jüngling, der den letzten Blutschlag gethan, Orestes, ist der Träger des Fluches. Er wird von den züngelnden Furien gepeitscht, die nur in der Nähe des Heiligthums, wo der reine Gedanke, der Geist des Gottes herrscht, vor dem Zerrissenen weichen. Er ist geflohen von der Blutstätte, von den heimatlichen Gestaden, wo jeder Stein an die Geschichte seiner Ahnen mahnt, über Meere und Berge. Aber wie der Psalmist sagt: und nähme er Flügel der Morgenröthe, und flöge aus äußerste Meer, die Erinnyen folgen ihm. Da tritt Iphigenia auf, die, zum Opfer bestimmt, die Göttin schon früh mit gnädiger Hand aus dem Gräuelhause forttrug und zur Priesterin sich weihte. Sie ist das außerordentliche Weib, das den Fluch ihrer Geburt überwunden hat. Selbst längst entsühnt, ist sie bestimmt als versöhnende Priesterin zu walten. Schon hat die Macht der reinen, edlen Weiblichkeit sogar die Sitte der Barbaren gemildert und Thoas muß von ihr sagen:


– es fehlt, seitdem du bei uns wohnst,

Und eines frommen Gastes Recht genießest,

An Segen nicht, der uns von oben kommt.


Aber diesen Segen soll sie auch dem verlornen Bruder mittheilen.[273] Der Athem ihrer reinen Brust soll den Wahnsinn auf seiner glühenden Stirne kühlen, die wüsten Bilder aus seiner zerrissenen Brust vertreiben. Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entsetzlichen Fluch, der auf ihm lastet, er stürzt vor ihr nieder, als er sie erkennt –«

Walter musste inne halten. Adelheid hatte plötzlich die Hand zurückgezogen und hielt sich die Brust. Dann fuhr sie sich über die Stirn.

»Ist Ihnen wieder unwohl?«

»Nichts, lieber Walter. – Fahren Sie nur fort, Sie erzählen so schön.«

»Es ist doch wohl besser, wir setzen heut noch die Stunde aus.«

»Nein, um Gottes Willen nein, heute muß es sein. Nichts bis Morgen wieder verschoben. Ich werde gewiß Muth bekommen. Es war nur die Vorstellung der Furien – ich möchte das Stück nie auf dem Theater sehen, so schön es ist.«

»Aber Orest wird ja geheilt.«

»Wer seine Mutter todt schlug!«

»Lesen Sie liebe Adelheid, irgend eine heitere Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balsam wirken.«

Adelheid las, was sie zufällig aufschlug:


»Das ist's, warum mein blutend Herz nicht heilt.

In erster Jugend, da sich kaum die Seele

An Vater, Mutter und Geschwister band;

Die neuen Schösslinge, gesellt und lieblich,

Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts

Zu dringen strebten; leider fasste da

Ein fremder Fluch mich an und trennte mich

Von den Geliebten. – Selbst gerettet, war

Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust

Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.«


Er nahm das Buch und schlug eine andre Stelle auf. Er suchte nicht viel, die Situation war ihm peinlich, er nahm die erste beste dithyrambische und sie las den Anfang des vierten Aktes:


»Denken die Himmlischen,

Einem der Erdgebornen

Viele Verirrungen zu,

Und bereiten sie ihm

Von der Freude zu Schmerzen

Und den Schmerzen zur Freude

Tief erschütternden Uebergang:

Dann erziehen sie ihm

In der Nähe der Stadt,[274]

Oder am fernen Gestade,

Daß in Stunden der Noth

Auch die Hülfe bereit sei,

Einen ruhigen Freund.«


Sie hatte das Buch fallen lassen, sie war aufgestanden. An der Tischecke schwankte sie, sie wandte sich ab, dann rasch auf Walter zueilend, ergriff sie seine Hand:

»Ich habe den Freund gefunden. Walter, Sie haben mich lieb?«

Er umfasste, aufspringend, ihre Hand, er bog den Kopf zurück, er starrte sie wie eine Erscheinung an: »Ist's Traum oder Wahrheit?«

»Walter, Walter, sprechen Sie, sonst wird's ein Traum, und mein Muth verlässt mich.«

Er presste die Hand heftig an seine Brust: »Ja – um Gottes Willen. Adelheid, Du –«

Er erdrückte den tiefen Seufzer, den er zu hören glaubte, indem er sie an die Brust schloß.

Ihr Herz schlug an seinem, sie weinte an seinem Halse, aber still, nicht wie die Leidenschaft, nicht wie die Seligkeit der Liebe weint. Er sank auf den Stuhl zurück, er hielt ihre Hände gefasst. So beschaute er sie. »Es ist des Glücks zu viel, zu viel auf einmal. Laß mich Dir ins Gesicht sehen, ob es nicht doch nur ein Traum ist?«

»Jetzt nicht, es könnte aussehen wie Lüge,« sagte sie, »nicht bis ich alles gesagt. Das Schwerste ist her aus, – Sie müssten ja roth werden über mich, wenn – wenn nicht alles so gekommen wäre, wie es ist.«

»Wie es ist!« wiederholte er. »Du sahst in mein Herz. Du erbarmtest Dich meiner, um mich nicht länger in Hangen und Bangen zu lassen.«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, Walter. Sie müssen sich nicht anklagen, um mich zu entschuldigen. Sie waren nicht in Hangen und Bangen, Sie sind ein Mann.«

»Nun fort das kalte Sie,« rief er. »Ich nehme Besitz von meier Eroberung.«

»Du wusstest recht gut, daß wenn Du mich fragtest, ich nicht nein sagen könne. Und, weiß Gott, nicht um Dir das Herz zu erleichtern, habe ich gesprochen.«

Er wollte sie noch einmal an sein Herz drücken. Aber sie entwand sich sanft seinen Armen.

»Keinen Kuß auf eine Unwahrheit. Es muß jetzt volle Wahrheit zwischen uns sein.«

»Unwahrheit!«[275]

Sie nickte mit einem thränenfeuchten Blick. »Laß mich nur einen Augenblick Athem schöpfen.«

Sie hatte sich an den Tisch gesetzt, der Kopf gleitete in die Arme. Er hatte sich leise an ihren Stuhl gestellt und legte sanft den Arm auf ihre Schulter. »Ich habe Dich lieb und bin bei Dir und Du hast mich auch lieb. Was hindert Dich noch?«

»Ich habe Dich lieb gehabt, seitdem ich Dich gekannt.« sagte sie ruhig sich zurücklehnend, »wie einen Bruder, vor dem ich mein Herz offen legen konnte. Habe ich's nicht gethan? Und wenn ich's nicht that, war es, weil ich dachte, Du läsest ja schon in meiner Seele wie in einem offenen Buche. Aber seit der – der fürchterlichen Geschichte ward es noch anders. Du allein bliebest immer derselbe gegen mich. Die Andern – erst wussten sie nicht wie sie mich ansehen sollten, und wichen mir aus. Nachher überschütteten sie mich mit Liebkosungen und Bewunderung, und machten aus mir wunder was, was ich nicht bin. Ich war doch nicht schlechter, nicht besser, Gott weiß es – aber was ich nun bin, nun ja, was ich besser bin, bin ich durch Dich. Seit ich das fühlte ward mir bange. Du hattest es mir vorausgesagt, durch große Leiden werde der Mensch geläutert, seine Sinne gehen auf für das Edle und Schöne und sein inneres Auge für das Ewige und Wahre. Und da sah ich, wie Du viel sorgsamer und liebevoller wardst, und mit jeder Schülerin würdest Du Dir nicht so viele Mühe geben. Und Dein Unterricht ward auch so besonders. Und da, Walter, da kam dann – ich weiß nicht wie – der Gedanke, daß es so sein müsste –«

»Und erschrakst Du vor dem Gedanken?«

Sie schwieg einen Augenblick: – »Nein gewiß nicht, Walter. – Wo konnte ich besser aufgehoben sein, dachte ich, wer sollte mich besser zum Rechten führen und schützen! Ich gewöhnte mich so daran, daß –«

»Du gewöhntest Dich nur daran!«

Jetzt erschrak sie vor dem Ton der Frage. Sie legte sanft die Hand auf seine, und blickte ihn klar an: »Hast Du nicht zuweilen gemerkt, daß ich lächelte? Ich dachte dann an das, was Du oft gesagt, der Mensch erzieht sich selbst, und man kann keine Natur ändern. Und Du wolltest mich doch ändern, so wie Du mich wünschtest. Und dann widersprach ich aus Uebermuth. Nur aus Schelmerei, ich nahm mir im Herzen doch vor, zu werden, wie Du es wünschtest.«

»Das hattest Du Dir vorgenommen und ich war der Gegenstand Deiner Gedanken!«

»Und da kam ich auf kuriose Dinge. Ob ich Dir auch würde auf die Schulter klopfen, wie Mutter thut, wenn sie der Vater[276] anfährt, ob Du auch zornig werden könntest? Und ob ich dann auch so machen dürfte, wie Mutter thut, um ihn wieder gut zu machen. Ich muß Dir sagen, es kam mir nicht ganz recht vor, wenn auch Mutter sagt: so muß man die Männer behandeln, wenn man Friede im Hause haben will. Du bist doch ein ganz anderer Mann, und ich meinte, wir müssten uns jeder dem andern grad heraus sagen, was er denkt. Ach und tausend Dinge. Aber, Walter, das dachte ich alles weit entfernt.«

»Hast Du nicht auch gedacht, daß Du jetzt in einem glänzenden Hause bist, eine gefeierte Schönheit, von Bewerbern umschwirrt, die von ihrer Anbetung sprechen? Hast Du nicht an Dein Herz gefühlt, ob, wenn der Eine oder der Andere ernst spräche –«

»Nein,« fiel sie rasch ein. »Sie sind mir alle gleichgültig.«

»Aber die Geheimräthin! Du bist ihr Augapfel. Sie wünscht, daß Du eine gute Partie machst, sie sucht vielleicht schon nach einem passenden Gatten, der Dich über Deinen Stand erhebt. Vielleicht auch, sie ist kinderlos, reich, das große Vermögen kommt von ihr –«

Sie fasste mit Heftigkeit seine Hand. »Nein, Walter, das denke um Gottes Willen nicht. Ich habe nie daran gedacht.«

»Und der Gedanke ist so natürlich. Du schauderst ja fast.«

»Ich begreife es oft nicht, warum ich nicht mehr Dank für sie fühle, aber – aber lassen wir das! Walter, verrathe mich nicht, und deute es mir nicht schlimm, es ist mir oft, als möchte ich je eher je lieber aus diesem Hause fort. Es ist mir so heiß, so bang oft –«

»Aber weißt Du, in welches ich Dich führen könnte? Ein armer Gelehrter, – würdest Du aus Deinem Reichthum mir in eine Hütte folgen?«

Sie sah ihn mit ihrem klaren Lächeln an: »Ja, Walter. Ich bin ja nicht für den Reichthum geboren. Wer weiß, wenn sie meiner überdrüssig wird, setzt sie mich hinaus. Da müsste ich mir vorsorglich ein Obdach suchen. – O pfui! keinen Scherz. – Aber ich habe mir es auch gedacht, daß Du zu stolz sein könntest, weil Du arm bist. O ich liebe Dich so stolz, wenn Du den reichen und vornehmen Herren kein Wort, keinen Blick schuldig bleibst. Wie Viele bücken sich und kriechen, Du gehst grade. – Nein, Walter, auch darum nicht, nicht weil ich Dir zu Hülfe kommen wollte. – Ach, hilf mir doch – das Schwerste ist heraus, das Allerschwerste steckt noch in der Brust.«

Sie barg ihr Gesicht an seinem Halse. Er strich über ihre Stirn; er bat sie zu denken, sie sei in der Kirche wie die fromme Katholikin, von der sie neulich gelesen, und er ihr Beichtvater.

»Neulich, nach unserem Feste – Du weißt von dem unglücklichen[277] Zufall. Ich verlor meine Besinnung, Jemand trug mich aus dem brennenden Zimmer. Hässliche, gleichgültige Menschen kamen und gingen; aber in der Nacht, als es still ward, halb wachte ich, halb träumte ich – die Andern hatten mich wohl vergessen in dem Wirrwarr, und die Nachtlampe brannte dunkel, da schlich es herein. Er überraschte mich –«

»Gerechter Gott!«

»Nein, Walter, erschrick nicht.«

»Wer?«

»Ich kannte ihn, und darf ihn doch nicht nennen. Er umfasste meine Knie, wie der Orest das Bild der Göttin, und seine schönen Augen rollten, wie eines Wahnsinnigen. Ich wollte aufschreien, mich losmachen, aber ich konnte nicht, wenn ich ihm ins Auge sah. Ihn peinigten ja auch, wie den Sohn des Agamemnon – die Furien.«

»Was wollte der Freche?«

»Er bat mich, daß ich vergessen, vergeben sollte.«

»Was solltest Du ihm vergeben?«

»Das ist aus der alten schrecklichen Geschichte –«

»Von der kein Wort! – Die Geheimräthin erwähnte neulich eines Unverschämten, der Dich auf der Straße verfolgt –«

»Ach, Walter, jetzt verstehe ich erst, was wir in den Gedichten lasen. Ist das Liebe so ist ja Liebe eine Krankheit, vor der Gott Dich und mich bewahre. So muß Orest krank gewesen sein.«

»Er sprach seine Leidenschaft aus, er quälte, marterte Dich? – Weiß Jemand darum?«

»Keiner soll davon wissen, außer Dir. Dich nehm' ich aus.«

»Du versprachst ihm Verschwiegenheit?«

»Ihm nicht, mir gelobte ich sie aus – einem Mitleid, das ich noch nie empfunden. Walter, o hättest Du ihm in das Gesicht gesehen, das schöne, fürchterliche Gesicht. Bald ein wildes Thier, das mich zerreißen konnte, bald wie ein Kind so sanft. – Ich bedurfte keines Beistandes, keiner Hülfe, glaube es mir, gewiß nicht. Ich wäre ihm wie eine Heilige, eine Göttin, eine Priesterin, deren Wünsche ihm Befehle sind –«

»Das ist die Sprache der Wüsten! Du kennst diese Menschen noch nicht. Wo ihre gewöhnlichen Künste nichts fruchten, sie einen Widerstand finden, den sie damit nicht bewältigen, stehlen sie aus der Seele ihres Opfers die edelsten Gefühle, um sie zu überlisten. Mit Thränen, empfindsamen Reden nesteln sie sich wie der Mehlthau an die Fasern und Fäden einer edlen Seele. Sie reißen die Brust auf, um Schmerzen zu zeigen, die sie erheuchelt, und indem[278] sie das Mitleid aufrufen, spritzen sie Gift in die arglose Seele de Theilnehmenden.«

Sie sah ihn ruhig an, und schüttelte den Kopf: »Du kennst ihn nicht; den nicht. Nein, Walter, das war keine Täuschung. Er schüttete seine volle Seele, seinen brennenden Schmerz, seine Selbstanklagen aus. Und dahinter blieb nichts zurück, kein Fältchen. – Wie eines Wahnsinnigen Reden klang es ja: aber wie die Wahnsinnigen im Alterthum, sagtest Du, die Wahrheit verkündeten. So spricht Keiner, daß er unwürdig sei, so entsagt Keiner dem, was ihm das Liebste ist – so spricht Keiner von dem Stern, der ihm zu spät geleuchtet. So nicht vom Vaterlande, das unter geht, So klagt sich Keiner an, daß er zu früh verzweifelt und darum selbst in dem Sumpfe versank, wo keine Rettung ist. Ich reichte ihm meine Hand, ich sagte, ich wollte ihn aufziehen, er rief: berühre mich nicht, es ist zu spät! Walter, das vergess' ich nie, das klang wie das Parzenlied. Da ist ein edler Mensch verloren gegangen.«

»Verloren!« rief Walter, in sich hinbrütend, »das ist ein schrecklich Wort.«

Sie ergriff seine Hand: »Und darum, Walter, darum habe ich gesprochen, wie ein Mädchen nicht sprechen soll. Und nun betrachte mich wie Dein Eigenthum; ich bin ganz ruhig und zufrieden. Schalte und walte damit, wie Du willst, schilt mich, züchtige mich nicht, daß ich den Schleier der Schicklichkeit zerriß, daß ich nicht abwartete, bis Du gesprochen. Bin ich nicht auch, wie die griechische Fürstentochter, fortgerissen aus dem Hause der Eltern, in die Welt gestoßen? Mein Gott hat es so gewollt, daß das Schrecklichste, Unerhörteste an einem armen Mädchen vorüberging. Da ward sie eine andere. Und Du bist der Mann, an den sich das schwache Mädchen lehnt, Du der Einzige, den ich werth fand, mich ihm zu geben, wie ich bin. War's Recht oder Unrecht, nun ist's an Dir, zu entscheiden. Du aber bist nun die Säule, an die der Epheu sich rankt, Du der Freund, den mir die Götter erzogen. Du sprichst nun für mich. So an Dich mich schmiegend, will ich stehen, wenn neue Stürme drohen, und der Unglückliche, der Verlorene, wenn er wieder kommt: Deine Verlobte, Walter, wird, ruhig und heiter, nicht mehr erschrecken.«

Die Schwalben und die Bienen, und die Sonne in der Linde schauten auf einen Glücklichen und eine still Zufriedene. Ein Moment, von dem Dichter jener Zeit gesagt hätten, daß Götter Sterblichen darum beneiden könnten. Der Neid der Götter war immer gefährlich, aber auch jene Götter täuschten sich und wurden getäuscht. Sie schaukelten über dem Spiegel auf der See und sahen nicht den Sturm, der ihre Tiefe aufwühlte. – Ueber[279] die Dächer tönte es vom Gensd'armenthurm. Die Lehrstunde war wohl zu Ende. Sie hörten mit Schrecken die Schläge. Es waren aus der einen Stunde drei geworden.

Das süße Geheimniß, was es für Andere noch bleiben sollte, durfte es nicht vor der Pflegemutter. Walter hatte es so gewollt. Adelheid erkannte seine Gründe an, aber sie seufzte, als sie aufstanden. Es war ein schwerer Gang.

An der Thür der Geheimräthin hörten sie ein Gespräch. Es war Wandels Stimme. Lisette, die hinzukam, sagte: Frau Geheimräthin wolle nicht gestört sein. – Adelheid athmete auf. Walter drückte ihre Hand: »Also ein andermal, theures Fräulein.« –

»Die sind auch einig,« sagte Lisette, nachdem sie die Flurthür hinter ihm zuschloß.

Quelle:
Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländische Romane, Berlin: Otto Janke, 4[1881], Band 7, S. 271-280.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Als einen humoristischen Autoren beschreibt sich E.T.A. Hoffmann in Verteidigung seines von den Zensurbehörden beschlagnahmten Manuskriptes, der »die Gebilde des wirklichen Lebens nur in der Abstraction des Humors wie in einem Spiegel auffassend reflectirt«. Es nützt nichts, die Episode um den Geheimen Hofrat Knarrpanti, in dem sich der preußische Polizeidirektor von Kamptz erkannt haben will, fällt der Zensur zum Opfer und erscheint erst 90 Jahre später. Das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren, der Jurist Hoffmann ist zu dieser Zeit Mitglied des Oberappellationssenates am Berliner Kammergericht, erlebt er nicht mehr. Er stirbt kurz nach Erscheinen der zensierten Fassung seines »Märchens in sieben Abenteuern«.

128 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon