Über Schlafmittel

[260] Schlafmittel, wenn man sie schon nimmt, müssen unbedingt restlos ausgeschlafen werden, also eigentlich Unnatürliches, das sich durch den Vorteil des Ausgeschlafenseins in Natürliches, ja, in Übernatürliches verwandelt, wenn man die ursprüngliche Schlaf-spendende Dosierung niemals steigert! Man hat seinen »heiligen, Kraft-spendenden Schlaf« in seinem Nachtkästchen, funktioniert also eigentlich schon den ganzen Tag lang frischer, prompter, weil man Das eben sicher genau weiß!

Ich bekam im »Sanatorium« Punkt acht Uhr abends, bereits beruhigt, von allen Melancholien befreit, ja märchenhaft fast erlöst, mein geliebtes Schlafmittel »Paraldehyd«, ein Likörglas voll, das mir unbedingt und nie nicht einen traumlosen tiefen Schlaf bis sieben Uhr morgens garantierte. Als ich später, in sogenannter Freiheit, also Selbst-Zerstörung, die Dosierung blödleichtsinnigerweise (Wer ist aber nicht so?!?) steigerte, begann dieses »heilige Schlafmittel« sofort als Vergiftung zu wirken! Nur der Warnung des Baron Professor Wagner von Jauregg verdanke ich meine Gehirn-Erret tung.[260]

Er sagte ganz gelassen: »Ich bin ein großer Verehrer Ihrer Werke, ja sogar Ihrer hygienisch-diätetischen! Aber in diesem Falle der Schlafmittel-Übertreibung stehen Sie, mein verehrter Dichter, dennoch knapp vor dem Delirium, der Gummizelle wegen Tobsuchtsanfällen, und sind infolgedessen für sich und die Anderen verloren! Da gibt es nur eine allmähliche Entziehungskur!«

Infolge dieser Schreckensnachricht von seiten eines allerersten Kompetenten war es mir von da an nicht mehr möglich, auch nur einen Tropfen dieses schauerlichen blöd mißbrauchten Giftes zu trinken, ja, der Geruch schon erfüllte mich mit mysteriösem Ekel wie Todes-Ahnungs-Düfte! Seitdem weiß ich überhaupt nicht mehr, daß »Schlafmittel« in der Welt existieren, und wenn ich nicht schlafe, bin ich morgens frischer, lebendiger als die gut Ausgeschlafenen! Man möge an den Außer-Gewöhnlichen Außergewöhnliches lernen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 260-261.
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