12./3. 1918

[213] Ich hatte seit 13 Wochen soviele unausgeweinte Tränen in mir, wegen meines doppelten Armbruches (Verlust der fast pathologischen Beweglichkeit eines 58jährigen), und wegen Paula, meiner »heiligen Kindsfrau« eines unglückseligen Lebens-Unfähigen, wie ein berühmter Seiltänzer, dem man heimtückisch die Beine abgesägt hätte! Niemand braucht so unerbittlich fast eigentlich noch mehr krankhaft vollkommene körperliche Elastizität wie ich. Ich kann mich, nein, ich darf mich mit dem »natürlichen Altwerden« nicht abfinden, mein Talent ist ein absolut rein physiologisches, abhängig allein von körperlichster Elastizität. Ich bin also momentan zu einem Greise geworden durch diesen für Andere mehr oder weniger gleichgültigen Unfall! Meine Dichter-Fähigkeit hängt ausschließlich von meiner fabelhaften, ja fast mystischen körperlichen Bewegungsfähigkeit ab, und ein doppelt gebrochener Arm ist ein doppelt gebrochener Peter Altenberg! Wenn ich nicht mehr auf Stelzen leicht nach rückwärts gehen kann, so bin ich nicht mehr ich. Wenn ich nicht den Handstand im Meere unter Wasser machen kann, den[213] Totensprung vom Trampoline, so bin ich nicht mehr ich! Mein Talent ist vollkommene konventionelle Nebensache. Ich hänge von der absoluten Beweglichkeit meiner Maschinerie ab und gar nicht vom Denken und Empfinden, das nur natürliche selbstverständliche unentrinnbare Folgen sind einer richtig gehenden Maschinerie! Nun bin ich aus meiner mir bestimmten Zimmer-Einsamkeit, dem Dr. D. zuliebe, in das Kino: Erna Morena, das Geschick der Julia Tobaldi, gekommen. Wie ein seelischer Abschluß eines verunglückten Daseins war es! Ich weinte Alles Alles aus, und meine Bewunderung der anmutsvollsten Frau dieser Erde erreichte den Gipfel meiner tragischen Begeisterungen! Ich betete zu ihr unter Tränen.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 213-214.
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