14./12. 1918

[355] Wie ist denn diese Nacht?!? Scheinbar Deine letzte. Unbedingt scheinbar.

Soviel Energieen so rasch einbüßen?!? Schrecklich.

Ein Hund beißt ihn, ein verlaufener, kleiner Hund. Ist er krank, ist er gesund, Niemand weiß es, Niemand kann es erkennen. Er erwartet sein Schicksal, Niemand kann ihm irgendwie helfen. Der Hund hat ihn gebissen. Das Schicksal droht über Deinem unglückseligen Haupte. Wirst Du schrecklich untergehen oder nicht?!? Beides ist möglich. Das frißt an Dir bei Tag und bei Nacht. Nie hört es auf, es zerrüttet Dich, gegen Deinen Willen. Ein Hündchen hat Dich gebissen, bei Nacht. Niemand weiß es, ob er gesund oder krank war. Du lebst seitdem unter einem schauerlichen Schicksale, Niemand vor allem kann Dich irgendwie erretten. Ein kleiner fremder Hund hat Dich nachts unvermutet gebissen. Er entfloh in die Dunkelheit, ließ einen Verzweifelten zurück. Du bist also dem Schicksale ausgeliefert, dem gnädigen, dem ungnädigen, gleichviel, Du kannst nichts daran irgendwie ändern, es ist Schicksals Gnade oder Ungnade. Nur der wirklich in bezug auf Dich Wissende kann Dir helfen, sonst Niemand! Lasse Dich um Gottes willen von scheinbarer[355] oder sogar echter sanfter Gutmütigkeit, also angeblich hilfsbereiter Opferfreudigkeit ja nicht verblenden und irreführen. Du selbst kannst Dich erretten, nur Du, sonst Niemand auf Erden trotz allem. Du bist sechzig, er ist fünfzig, daher triumphiert er um zehn Jahre über Dich, ist aber tückischerweise um dreißig Jahre verständnisloser, einsichtsloser, egoistischer! Höre nicht auf ihn! Kümmere Dich ja nicht darum, Nachgrübeln kann Dir unter keiner Bedingung helfen! Wie wenn Jemand über seine Zuckerkrankheit nachgrübelte! Es schwächt ihn, lähmt ihn, nützen kann es ihm in keinem Falle! Trage Dein Schicksal, Das ist Deine einzige Medizin. Habe die Kraft, alle sogenannten scheinbaren guten Ratschläge momentan brutal-schamlos zurückzuweisen! Jeder Andere ist Dein Todfeind, unter der Maske gutmütiger Selbstlosigkeit. Paraldehyd ist ein lähmendes, infolgedessen leider Schlaf bringendes Gift. Niemand kann es Dir verbieten wie Du selbst. Die Folgen mußt Du ewig im Auge behalten, nein, im Gehirne, und noch so gütiges Zureden ist Spreu im Sturmwind. Du selbst allein mußt, kannst, wirst Dich erretten aus Deinen eigenen sogar bereits selbstgegrabenen Abgründen! Sonst Niemand, kein angeblich verständnisvoller Arzt, kein gutmütiger Freund! Nur Du, Du, Du allein, Du selbst! Von Deinen Lebens-Energi en allein hängt Dein Lebens-Schicksal ab, aber weder von den, naturgemäß in bezug auf Dich, völlig verständnislosen und größenwahnsinnigen Ärzten oder von ebenso naturgemäß verständnislosen wohlmeinenden Freunden, die Dich in allerbester Absicht in Deine eigenen[356] Abgründe hinabstürzen! Folge Deinem eigenen besten Ich in Dir, nur Das kann Dich vor Dir selbst und Deinen Krankheiten der Seele, des Geistes, des Leibes eines Tages erretten! Horche ja nicht auf wohlmeinende Stimmen von außen, horche auf unerbittlich strenge Stimmen aus Deinem eigenen Inneren! Nur hier ist für Dich das Heil, die Errettung, der eventuelle Segen! Verlasse Dich nicht auf die noch so scheinbar liebevolle, aber rücksichtslose Außenwelt, sie hat, sie kann von Deinen Lebens-Mysterien keine Ahnung haben. Verlasse Dich auf Dich selbst! Und solltest Du dennoch dabei, dadurch, in Deinen Lebens-Abgrund stürzen, so sei es! Dein Verhängnis, Dein Schicksal, basta! Deine Krücken sind nur Dein Geist und Deine Seele, sonst nichts.[357]

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 355-358.
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