26./10. 1918

[326] Es regnet. Welche mächtige unerklärliche Wirkung dieser milden Feuchtigkeit?!?

Es regnete die ganze Nacht hindurch.

Und es regnet weiter. Von Staub natürlich keine Spur also. Man wird direkt gereinigt, aber nicht so verblödet äußerlich mit Schwamm und Seife, sondern vom Innersten heraus, durch Staublosigkeit der Lunge. Das verstehen die Menschen aber noch nicht, ein reiner Stehkragen, der nur den Hals zuschnürt, ist ihnen leider noch immer viel wichtiger als Reinigungsmittel. Von »innerster Reinlichkeit«, der einzig wertvollen, die es gibt, verstehen sie noch gar nichts. Regen, Feuchtigkeit, Kälte, hat für sie noch immer keinerlei Lebensbedeutung. Infolgedessen auch selbstverständlich[326] ihr vollkommen falsches Denken und Empfinden in jeglicher Beziehung. Zugluft stört sie. Sie leben »kohlensäuremäßig, also ununterbrochen vergiftet, statt sauerstoffmäßig, also stets lebendig«! Regen, Feuchtigkeit, Kälte stört sie, sie brauchen Wärme und schlechte Luft, pfui! Sie begreifen noch nicht den tiefen Abscheu vor den Lebensgiften, die alle Elastizität rauben. Der Arzt soll schließlich helfen, aber kann er, nein! Hilf dir selbst, Unmensch, in deinen zahlreichen stupiden Unmenschlichkeiten, wie kann der Arzt alle deine Lebens-Blödsinne erkennen?!? Wenn er dir raten würde für die 20 Kronen: »Gehen Sie im Regen ohne Kopfbedeckung, tragen Sie Sandalen ohne Socken, leben Sie Natur-gemäß, da würde er schön bei dir ankommen!« Daß Bismarck stets ein wenn auch ungestärktes weißes dickes Halstuch trug, störte mir stets empfindlich seine Genialität. Der weise Mensch hat sich nicht einzuzwängen, in keiner Weise. Vielleicht war er deshalb Schuld an – – – was weiß ich darüber?! Aber einzuzwängen hat man sich eben nicht, in keinerlei Art! Sonst ist man kein Genie, sondern ein Eingezwängter!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 326-327.
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