Der Abend

[14] »Was dichtest du da soeben, Dichter, in deiner Zimmereinsamkeit?!«

»Ich dichte eine Art Hymne darüber, daß bis heute, 3/47 Uhr abends, noch nichts Schreckliches seit gestern für meine kranke Seele sich ereignet habe!«

»Woran ist deine Seele krank?!«

»An allen Ungerechtigkeiten, Dummheiten, unnötigen Taktlosigkeiten dieses sonst vielleicht erträglichen, vielleicht sogar lebenswerten Daseins.«

»Da glaube ich es dir wohl, daß du krank bist. Gesunde spüren eben solche Kleinigkeiten noch gar nicht, die einfach dazu gehören zum Leben, niemand beklagt sich, der die gesunden Nerven hat, des Lebens selbstverständliche Bürde zu tragen!«

»Weshalb hängt man Mütter, die ihr zartes Kindchen geheim bestialisch, diabolisch, mittelalterlich[14] verkommen zu Tode foltern, nicht öffentlich auf zum abschreckenden Beispiel?!«

»Weil das Gesetz es anders bestimmt.«

»Könnte denn nicht alles leicht verbessert werden?! Durch einen einzigen Federstrich?!«

»Ja, alles!«

»Nun, und?!«

»Halte dich an diese eine Hoffnung, lebensunfähiger Dichter!«

»Lasse mich jetzt meine Hymne zu Ende dichten über diesen merkwürdigen Tag, da meiner kranken Seele zufällig bis 3/47 Uhr abends nichts besonders Tragisches passiert ist!«

»Lebe wohl!«

»Warte! Und das jetzige Gespräch mit dir?! Ich schreibe also die Hymne nicht! Leb' wohl.«

»Warte! Schreibe deine Hymne dennoch. Gespräche sind noch das immerhin wenigst Zerstörende in diesem Leben!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 14-15.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]