Die Heiligen Versteher

[335] Jemanden wirklich verstehen, heißt, ihn so zu verstehen, wie er sich selbst verstehen möchte, wenn es ihm gelänge! Aber da sind so viele Hindernisse, Mißverständnisse, Komplikationen jeglicher Art, daß man stets blöderweise auf irgend Einen, irgend Eine hofft, die Einen aus den Labyrinthen des eigenen Seins herausgeleite! Also auf ein Genie, das nicht existiert. Gibt es denn Solche überhaupt aber?! Jeder, Jede ist mit den eigenen Komplikationen direkt emsigst pathologisch beschäftigt, erträumt sich sein eigenes unfaßbares Glück hienieden! Infolgedessen gibt es auch keine reelle Freundschaft, sondern nur gefährliche Gespräche über dieselbe! Niemand versetzt sich reell-anständig-gutmütig in die verzweifelte Lage des Anderen, da er mit seiner eigenen verblödeten ununterbrochen pathologisch zugleich beschäftigt ist. Freundschaft ist edle, weise, gutmütige Selbstlosigkeit. Aber wo ist sie?! Ihr Narren?!? Es müßte fast schon ein Beruf sein, eine Pflicht, eine Freude! Eine heilige Mission, helfen können, ja, diese natürliche Genialität des Herzens! Jeder sucht hingegen sein armseliges wichtig-unwichtiges Persönchen dem Anderen, der Anderen, pfui, meistens sogar frech aufzudrängen ohne die geringste Wissenschaft des vollkommen [335] anders gearteten Nebenmenschen! Jeder bedenkt nur sich selbst. Deshalb sind Gespräche so schwächend, weil der Deckmantel der elenden Heuchelei so schleißig, so fadenscheinig ist. Alle Tragödien bestehen aus lächerlich-schauerlichen Mißverständnissen, die gerade Jene nicht einmal aufzuklären versuchen, die direkt dazu berufen wären! Jeder, Jede wehrt sich seiner, ihrer Haut, wenn auch auf die meist ungeschickteste Weise! Lasset doch um Gotteswillen wenigstens ein bißchen dem Schicksal seinen unentrinnbaren Lauf! Lasset die Menschen ihre Wege gehen! Ihre tragischesten! Ist »Freundschaft« eine bequeme »Einmengung«?! Freundschaft ist eine allertiefste, allerweiseste Erkenntnis! Wer hat sie?!? Niemand! Das Wort »Freundschaft« ist eine Art von Verbrechen, und Der es vernimmt, möchte am liebsten sofort in bittere Tränen ausbrechen. Was, was, was geht in ihm wirklich vor, und welchen Blödsinn denkt der Andere darüber, und legt ihm noch begütigend die Hand auf die Schulter!?! O Freund, o Verräter! Wie wenig Respekt vor der fremden Welt, und welche Frechheit angeblicher Freundschaft?! Frauen glauben wenigstens eine Zeitlang edle Spenderinnen zu sein. Aber Männer?!? »Freundschaft« ist ein entsetzliches Wort, es müßte heißen: »Weisheit«! Aber Wer hat sie, Wer will sie, Wer kann sie haben?!? Wer hilft dem Anderen ernstlich aus Freude, zu Hilfe zu kommen irgend Jemandem?!? Freundschaft ist das blöd verlogenste Wort, während »Weisheit« oder »weise Voraussicht« oder »edles Bedenken« direkte Heilmittel werden können! Niemand ist irgend Jemands echter Freund, er ist nur,[336] ein Wissender oder ein Unwissender in bezug auf ihn, meistens leider jedoch das letztere. Wie schauerlich billig findet sich Jeder mit dem Anderen ab, ja, fast verbrecherisch billig. Habt Ihr auch nur die geringste Ahnung davon, Jemandem ernstlich-würdig-gutmütig gerecht werden zu wollen in seinem ach von dem Eurigen so verschiedenen Dasein?! Lebt Ihr ihm gegenüber nicht ausschließlich von frechen Überhebungen und tyrannisch apodiktisch falschen Urteilen, die Eurer frechen Bequemlichkeit des Geistes und der Seele, die Ihr doch nicht besitzet, entspringen?! Freundschaft!? Welche Fülle edelster Weisheit liegt in diesem tief mißbrauchten Worte Eurer bequemen Herzlosigkeiten!?! Niemand ist irgend Jemands Freund, und Hamlet mordete Ophelia, weil er sie nicht verstand, nicht ahnte. Wer Dir Dienste, leistet, ist fast schon ein Genie! Aber Wer kann, Wer will es?! Das schreckliche Wort »Freundschaft«, diese verbrecherischeste Verlogenheit sollte ganz ausgerottet werden, an deren Stelle edle Weisheit gesetzt werden! Geistigkeit. Das Bedürfnis wirklich zu helfen, mein Gott, Wer hat es?!? Lasset sie ihre für Euch mysteriösen Wege ruhig wandeln, wenn Ihr schon mit den Euren allzusehr beschäftigt seid! Menget Euch doch um Gotteswillen nicht in Welten, die Euch vollkommen fremd, sind, und wo Eure angebliche gutmütige Hilfe nur heimtückischen Schaden stiftet! Freunde sitzen scheinbar gemütlich beisammen und zerstören sich absichtlich-effektiv fast mit jeder Bemerkung! »Ich bin Dein Freund!«[337]

»O, wärest Du es nicht!«

Der Geist herrsche und sonst nichts! Frauen spekulieren direkt auf unsere Geistlosigkeiten! Helfen heißt: helfen! Gespräche zerstören und vernichten das Tiefste, Beste am innersten Menschen! Was bleibt übrig?! Gespräche! Frauen spekulieren wenigstens auf ihre »äußere Wirkung«, die tatsächlich leider eine Zeitlang anhält! Aber das Wort »Freundschaft« ist verbrecherisch! Lebet miteinander in Weisheit, aber ohne Gefühle! Betrüget Euch nicht selbst um Euch selbst! Die, die sich verstehen, ha, ha, ha, verstehen sie sich?! Keine Spur! Sie schreiten ihre inneren tragischen Wege und nach außen hin lächeln sie frech-blöd. Als Freunde!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 335-338.
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