Geselligkeit des Abends im Kaffeehause

[235] Es ist natürlich gar keine Geselligkeit, wie könnte es auch möglich sein bei irgendwie körperlich, seelisch, geistig, ökonomisch, sozial (falscher Ehrgeiz) nicht aus inneren überschüssigen Lebens-Kräften, sondern aus dem öden rastlosen Willen eines noch ganz Lebens-unmündigen Gehirnes belasteter oder wenigstens irgendwie gebundener unfreier Organisation (weißt Du, wann und weshalb die Nachtigall von selbst süß singt?!?)?!?

Aber man sitzt beisammen, und vergißt infolgedessen mechanisch für einige Stunden seine zahlreichen Enttäuschungen, Unannehmlichkeiten, unnötig nötigen Verlogenheiten des Tages und der Stunde, man ruht aus von den Strapazen des[235] Lebens, das überhaupt nämlich schon mehr fast keines ist! Jede Pflanze hat die mysteriöse Kraft, ihr eigenes Leben gegen alle Anderen zu leben!

Sonst verdorrt sie baldigst, schwindet hinweg, lautlos trübe, aus einem Leben, das ihr nicht genug zu leben gibt, nach ihren eigenen unentrinnbaren geheimen Gesetzen! Aber der Mensch ist ungeschickter, ungenialer. Er merkt, es geht nicht mit dem Leben so weiter, daher rennt er zum fremden Arzte, der ihn durch zehn Jahre erst Tag und Nacht vergeblich studieren müßte. Nein, er begnügt sich aber mit nichtssagenden Ratschlägen für eine vollkommen zerrüttete mysteriöse, unbedingt überall tief für den Anderen rätselvolle Lebens-Maschinerie, Honorar 50 Kronen! Er sucht zu helfen, soweit es seine kostbare Zeit (1/2 Stunde) und das immerhin geringe Honorar gestatten. Aber kann er unter diesen gequälten und vor allem tief verlogenen Bedingungen helfen überhaupt?!? Keineswegs. Er kann einen Schimmer von stupider Hoffnung bringen! Ja, Das kann er. Dem Stupiden.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 235-236.
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