Melancholie

[309] Mein Bruder sagt: »Melancholie ist Desorganisation. Deine Lebensmaschinerie (diesen Ausdruck hat er von mir, macht nichts, wenn er nur treffend ist, und das ist er, weiß Gott) zeigt dir ängstlich-besorgt an, daß irgend etwas irgendwo aus irgendwelcher unbekannten Ursache nicht ganz in Ordnung ist!«

Es kann doch aber Verzweiflung über irgend etwas ganz Positives sein, nicht!? Das ist ja eben schon eine Hinderung der Funktionen der Lebensmaschine, eine Anbahnung zum Beispiel künftiger Zuckerkrankheit oder anderer Stoffwechsellähmungen. Es gibt aber trotzdem dennoch auch grundlose Melancholien, physiologische Nirwanagefühle, »wozu bin ich eigentlich in dieser unvollkommenen vorläufig tragischen Welt«?! Diese Melancholien sind die historischen in deinem raschen Tagesleben, sie kommen von der Eltern oder Großeltern Ungnade her, sind dir mitgegeben scheinbar also grundlos'! Das meiste Unrechte, Blödsinnige, Viertel- oder Halbirrsinnige aber, das man gegen seine Lebensmaschinerie unternimmt, hat den Grund, latente[309] unbekannte Melancholien zu betäuben, zu bannen, auszuschalten, die meisten hoffen leider blödsinnig, sie dadurch zu heilen! Eine ewige Sehnsucht nach Vollkommenheiten ist latent in uns, und der Schmerz, sie nie zu erreichen, läßt uns die schauerlichsten kindischesten Blödsinne begehen, statt die Sehnsucht als Menschentum-Förderndes gelassen-ergeben tragisch auswirken zu lassen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 309-310.
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