Der Schlaf

[310] Unausgeschlafen.

Unausgeschlafen, aus irgendeinem mysteriösen Grunde, die anderen Gründe kann man mit seiner Weisheit vermeiden, aber die mysteriösen?! Da ist man das unschuldige physiologische Opfer! Weshalb, Hund, bist du also dennoch, trotz allem nicht ganz ausgeschlafen?! Schleppst noch ein Stück von deinem »Tot-sein-wollen – und vor allem müssen« in das beschwerliche, anspruchsvolle, lächerliche, belastende, niederdrückende, Lebens-Energien kolossal aufzehrende, stupide, unnötige Leben des schweren bleiernen Tages hinein?!? Mit allen Mitteln restlos ausgeschlafen sein! Das ist die einzige Energie-Erhaltung dieser Maschinerie »Mensch«. Ihr Zeit, Gelegenheit geben zur Regeneration aller ihrer irgendwie verlorenen Tageskräfte im regenerierenden Todesschlafe der Nacht! Die Nacht sagt zum Schläfer, wie Brünhilde zu Siegfried, den sie im Banne der Unbeweglichkeiten leider eine Zeitlang hielt: »Zu neuen Taten, teurer Helde, wie liebt' ich dich, ließ ich dich nicht?!?« So entläßt die heilige, Leben bannende, eigentlich dadurch[310] aber eben erst Leben spendende Nacht den Menschen, nein, den Künstler-Menschen, zu neuen, frischen, lebendigen Taten!

Niemand ahnt den Wert des restlos von selbst endenden Schlafes, bei weit geöffneten Fenstern, für die Energie-Leistungen des nächsten Tages! Krankheit, Todeskrankheit ist nichts anderes, kann nichts anderes sein wie die von der Natur gemachte schließliche Abrechnung für alle Milliarden Unnatürlichkeiten, genannt Sünden, die wir an ihr jahrzehntelang bewußt-unbewußt begangen haben.

Schlaf, du, den alle sich ersehnen, du bist mir leider nichts, ich habe nicht durch dich, Schlaf, das Gefühl unermeßlicher Erlösung vom Drucke des unertragbaren Lebens! Ich bin nicht mehr, ohne es zu spüren; mein Nicht-mehr-da-sein kann mich nicht beglücken, da ich eben auch lebendig nicht mehr vorhanden bin! Eine tote Masse. Aber diese Stunden, die zum vorübergehenden Nacht-Tode, dieser Tages-Erlösung, langsam unmerklich hingeleiten, die kann man genießen als werdendes Hinaus-Entschwinden aus seiner schrecklich belastenden, tief verlogenen Lebens-Welt! Der Augenblick ist heilig, heilig, da ich mich von dem Joch, der Sklaverei, der Folter der Lebens-Konvention allmählich sanft unmerklich befreit fühle, freilich erst für »momentanen, allzu kurz währenden Tod«! Diese Augenblicke oder oft Stunden des Hinübergleitens in ein Land völliger mysteriöser Gleichgültigkeit den Wünschen des Lebens gegenüber, diese edle, momentane Befreiung von Eitelkeit und Ehrgeiz, von Liebe und Eifersucht (die Lebensmaschinerie ist eben Gott sei Dank erschöpft, versagt[311] die Produktion von Lebens-Qualen, ersehnt sich den momentanen, wenn auch leider hoffentlich vorübergehenden Schlaf-Tod). Es allmählich heranschleichen merken, die kommende Tagesnot-Erlösung vorausempfinden können, das allein ist der heilige Genuß der Schläfrigkeit! Der Schlaf ist eine Notwendigkeit, die dich dir völlig unbewußt zur notwendigen Morgen-Kraft geleitet! Aber die Schläfrigkeit spürst du ganz wundersam unentrinnbar als Einleitung zum notwendigen, wenn auch nicht mehr leider kontrollierbaren Schlafe! Dieses wundersame Ausspannen aller deiner berechtigten oder meistens unberechtigten und überflüssigen Lebens-Energien mitzuempfinden, dieses »organische Nirwana« deiner Lebens-Bemühungen ist deine liebliche holde Schläfrigkeit!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 310-312.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]