September

[312] Die zinnoberrot frisch angestrichene Dachrinne schimmert im Mondlichte, die frisch angestrichenen schneeweißen alten Dachfenster leuchten. In den dunklen Fenstern sieht man Lichter huschen ohne Menschen. Auf der Straße trappen ohne Unterlaß und eigentlich ohne Grund ununterbrochen Pferde. Vielleicht sticht sie irgend etwas, oder vielleicht gerade überhaupt gar nichts, der Übermut des Übermutes, irgend wohin muß es doch hinaus, wenn auch nur durch Scharren und Stampfen!?! Lichter entzünden sich plötzlich mysteriös in weiten dunklen Zimmern, gehen und kommen fast lautlos, wie krankhaft schlaflose Menschen. Eine Dame träumt ihren[312] September-Erinnerungen nach. »Es war wie es war, jünger wird man jedesfalls nicht in meinem Alter!« Aber älter eigentlich auch leider nicht. Man bleibt so fad-blöd gerade in der Mitte stecken, eine Menge merkwürdiger Erkenntnisse, die Einem doch trotz allem gar nichts nützen, obzwar man es bestimmt glaubt. Die Weisheit entwischt dir, obzwar du weiser geworden bist! Die Winter-Saison bringt wieder die Winter-Saison, sehr viel Neid also, Eitelkeit und Enttäuschungen. »Dieser Lila-Sammet-Hut der Gräfin, mit der hellgrünen Papageien-Feder! Gott, mit solchen Exzentrizitäten heute noch wirken zu wollen, das ist ja fast schon ein halber Peter Altenberg, obzwar der echt verrückt zu sein scheint, von Geburts Ungnaden her! Also ohne seine Schuld!«

Die zinnoberfarben frisch angestrichene alte Dachrinne schimmert mysteriös im Septembermondlicht, und die frisch weißgestrichenen alten Dachfenster leuchten fast gespenstisch. In den dunklen Zimmern sind hie und da helle, rasch verschwindende Lichtlein, wie kränkliche Menschen, die nicht Schlaf finden können. Sie durchqueren ihre Wohnungen. Was nützt es ihnen?!? Nichts, gar nichts nützt es ihnen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 312-313.
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