Prothesen

[173] Ich habe soeben heute Sonntag, 23. 12., vom Spital-Chef der Prothesen-Abteilung in der Invaliden-Schule, Oberstabsarzt Dr. Hans Spitzy, einen Essay[173] über die laienhaft absichtlich übertriebene Verhimmelung der »modernen Prothesen« gelesen, der mir als Laien endlich den Mut gibt, meine Ansicht darüber auszusprechen. Ich nehme selbstverständlich alle Jene dabei sogleich aus, die aus irgendeinem mir unbekannten Grunde Bein-Prothesen (dauernde Stützpunkte) benötigen in ihrem Berufe. In jedem anderen Falle ist die Bein-Prothese nur ein neuerlicher schnöder Beweis des Schrecklichsten im Leben, der stupiden menschlichen Eitelkeit! Und auch der Erwerbsucht gewisser Fabrikanten und Händler! Durch den Verlust eines Beines wird das Gewicht des Organismus um so und so viel Kilo verringert, also der »Kampf gegen die Materie« erleichtert! Ich selbst verpflichte mich, in sechs Wochen bis zwei Monaten, mit Hilfe hohler Bambuskrücken mich ohne rechtes und ohne linkes Bein viel elastischer und viel anstrengungsloser, also entmaterialisierter, also menschlicher, fortzubewegen als bisher! Ich habe übrigens einen einzigen solchen jungen Offizier vor acht Tagen auf dem »Graben« gesehen, der außer mir, dem »Sandalen-Gänger«, allen feinen Herren und Damen ostentativ es bewies, daß er mit einem linken Beine und zwei herrlichen Bambus-Krücken viel elastischer, zarter, edler, menschlicher schreite, wie alle sich mühselig Dahinschleppenden! Die sogenannten, ha ha hi, Normalen! Wenn man dem geliebten Vaterlande ein Bein hat opfern müssen, hat man es nicht nötig, das edel – nicht vorhandene in Hose und Stiefel zu verstecken! Der auf irgendeine Weise zu Schaden[174] gekommene geniale Organismus hat die menschliche Verpflichtung, Alles wieder auf irgendeiner anderen Seite auszugleichen, nicht aber aus stupider Eitelkeit es zu versuchen, mit Jenen noch zu konkurrieren, die zufällig besser situiert sind! Bein-Prothesen sind, außer in Berufs-Angelegenheiten, eine verbrecherische, aus stupidester menschlicher Eitelkeit, also von Teufels Ungnaden aus, entsprungene gefährliche absolut unnötige Belastung der Materie. Wer in der Schlacht Das erlitten hat, was er erlitten hat, wird auch in wenigen Wochen auf Bambus-Krücken hoffentlich eine Parter re-Akrobaten-Elastizität erlangen können! Auf ein halbes Beinkleid und einen Schuh kommt es im wirklichen Leben Gott sei Dank nicht an! Oder doch?!? Die »Intellektualität« des Gehirnes hat ausschließlich dazu ausgenützt zu werden, der so kompliziert-genialen Lebens-Maschinerie bei jeweilig veränderten äußeren oder inneren Umständen sofort zu helfen und ihr für verlorengegangene Energieen ganz neue in neuen Sphären zu verschaffen! Auf seinen bisher gewohnten oder zufällig gegebenen Verhältnissen hartnäckigstupid-verbohrt bestehen, ist ein schmähliches Geistes-Armuts-Zeugnis, das man seinem eigenen adeligen Herrscher »Geist« selbst ausstellt! Pfui über alle konventionell-bourgeoisen Prothesen in irgendeiner Sphäre seines Lebens! Für verlorengegangene Energieen der Lebens-Maschinerie schaffe das Genie »Gehirn« sofort 10000 neue, ja bessere, vollkommenere! Die »Materie« kann nie beschädigt werden, solange der »gute Geist«, nein, der richtige[175] Geist über sie wacht! Man kann sterben, aber nicht alt werden! Das sind sich selbst ausgestellte Armuts-Zeugnisse! Das sind »Stoffwechsel-Lähmungen«, eine Art von »geistiger Zuckerkrankheit«! Prothesen sind Versuche, ohne die Macht des Geistigen in uns, über irgendeinen Defekt maschinell hinüberzukommen! Etsch! Anpassungs-Fähigkeit ist Alles, hoch Darwin!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 173-176.
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