Weltkrieg 1918

[296] 4. Juli


Im Alter von 18 Jahren hat nach sechs Monaten Dienstleistung im Felde der Schlachtentod den Einjährig-Freiwilligen Unfreiwilligen Otto Müller[296] dahingemäht! Sein beinahe kindliches Interesse gehörte zeitlebens der »Waldvogelbewegung, dem Waldvogelschutze an«. Er gehörte diesem Vereine mit seinem kargen Taschengelde an.

Wenn unser Alexander Girardi auch noch dazu Knut Hamsun, Strindberg, Altenberg gelesen, verstanden und in sich aufgenommen hätte?! Ja, dann! Aber hat er es, hat er es?! Er war ein genialer, »tragischer, urwüchsiger Kasperl«, gerade Das, wofür der Wiener noch Begeisterung aufbringt! Die Oberfläche, nein, die erste der Oberflächen!


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Persönliche (also mystische-unfaßbare-unbegreifliche) Sympathien demolieren, zumal bei Frauen, sofort alle besseren, gerechteren, anständigeren, wahrheitsvolleren, ja poetisch-objektiveren Erkenntnisse über Uns! Das Gehirn, die ser adelige Herr über unser armes Sklavenleben; wird da momentan ausgeschaltet, und es tritt der mystisch-unerklärlich funktionierende Nervus sympathicus als lächerlicher unbezwinglicher Herrscher auf!

Solange die Lebensmaschinerie nicht mehr prompt funktioniert, aus irgendeinem Grunde, verweigert sie auch naturgemäß jegliches Heilmittel, da sie eben die Reaktionsfähigkeit, die Wiederherstellungs-Möglichkeit verloren hat! Da ist eben möglichste Ausschaltung der Lebensfunktionen naturgemäß verordnet! Bettruhe, Hungerkur, endeloser Schlaf bei weit geöffneten Fenstern. Ausschaltung, so weit es eben überhaupt möglich ist,[297] aller Funktionen. Deshalb auch ununterbrochene Abführmittel (Darm-Entgiftungs-Mittel): Rheum et Magnesia usta, 50%, ein Eierlöffel voll des Abends! Oder: Kurella-Pulver.

Ich sehe um mich herum und selbstverständlich deshalb auch in weiten scheinbar unbekannten Fernen, lauter Menschen, zumal junge Frauen und angeblich hysterische Mädchen, die sich auf ihrem, einst vom Schicksale doch so einfach bequem vorgeschriebenen Wege, vollkommen ins »Ungewisse« verirrt haben, und sich nun, zu ihrem Verderben, aufs Suchen nach für sie Unerlangbarem in diesem Labyrinthe »Leben« verlegen! Die ewig spendende melancholisch-heitere Natur selbst sollte Dir vor Allem Alles bereits spenden, ehe Du suchst: Gmunden, der Attersee, der Wolfgangsee, besonders in Frühlingszeiten und in Herbstzeiten! Der Kur-Sommeraufenthalt ist bereits fad-angestrengt-gewollt, amüsant, konventionell-unbesonders.

Lausche bei Tag und Nacht Deinen Dir vom Schicksal zufällig gnädig mitgespendeten, geistigen, seelischen, körperlichen Kräften nach und überheize Deine mysteriöse Lebens-Maschinerie nicht infolge der Gifte »Ehrgeiz«, »Geldgier«. Werde ein »selbstverständlicher Diogenes Deiner selbst«! Alles ist nichtig außer Das, was das Schicksal schon bei Deiner Geburt in Dich von Urgroßväters Gnaden oder Ungnaden hineingelegt hatte, auf daß Du es zu Deinen eigenen Idealen langsam-bedächtig entwickelst! Zu dieser Erkenntnis-Kraft mußt Du allmählich gelangen, auf daß es Dir gut ergehe auf dieser schlimmen Erden!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 296-298.
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