Verzehrungssteueramt

[236] Es war ein heißer, staubiger Nachmittag in I. Die Wiesen ächzten vor Staub und die alten Bäume an der Laxenburger Allee; der Liesingbach war grau, braun, lila und stank entsetzlich. Selbst die Hunde lagen matt in den Höfen, statt sich den üblichen sexuellen Orgien hinzugeben, die sie über die Nichtigkeit des Daseins hinüberbringen konnten. Ich bemerke weit und breit nichts Anregendes, Emotionierendes. Selbst den Mäderln bei der »amerikanischen Schaukel« konnte ich nicht für 10 Heller eine Paradiesesfreude verschaffen; denn es war niemand vorhanden, und alles schlief in schattigen Teilen von Wiesen, Höfen und Gärten. Die zwölfjährige herrliche Annerl K. hatte Kopf- und Halsschmerzen, und ich konnte ihr nur ihre Lieblingszuckerln, Obersbonbons, zuschicken. Die wunderbare sechzehnjährige Toni W., mit dem Antlitz einer heiligen ergebenen Dulderin, saß in ihrem fest verschlossenen kühlen Zimmerchen und arbeitete an einer netten Singermaschine eine Bluse für eine Freundin, die Sonntag Ausgang hatte. So ging ich die staubgraue Laxenburger Allee hinauf, bis zum braunen Westbahnstatiönchen, neben dem sich das Verzehrungssteueramt für Favoriten befand. Ich setzte mich auf ein schmales Bänkchen, das um einen der alten verstaubten Riesenbäume geschlungen war und erwartete Verzehrungssteuer-Emotionen oder Sonstiges. Aber alle Hunderte von Automobilen, von denen ich erwartete, sie würden ein wenig rechts hinauf gegen Laxenburg zu fahren, hielten perfiderweise[236] ganz strikte die linke Straßenseite ein, worüber ich allmählich in Empörung geriet. Diese Langweile der Ordnung war eine Gemeinheit, wenn man so wie so schon nur mehr auf exzeptionelle Abenteuer angewiesen ist an einem solchen schrecklichen Nachmittage. Ich hätte gerne jedem Automobil zugerufen: »Fahren Sie links, Sie Trottel, fürchten Sie sich vielleicht vor der Behörde?!?« Aber alle fuhren knapp rechts oder höchstens die Mutigsten in der Mitte, was auch noch nichts zu bedeuten hatte. Hundert Wagen mit mysteriösen Gegenständen unter verstaubten Kautschuktüchern hielten bei dem Verzehrungssteueramte. Immer forschte der Beamte mittels eines eisernen, am Ende gebogenen Stabes nach geschmuggelter Ware. Aber immer sagte er kühl-ruhig;

»Vorwärts!« Und der Kutscher bestieg wieder den Kutschbock mit einem fast geblähten, triumphierend reinen Gewissen. Ich war schon ganz verzweifelt. Kein Betrunkener weit und breit, kein Kinder-Verzahrer, wo es doch so viele lauschige Plätzchen dafür gab – – –. Endlich kam ein kleiner Wagen heran.

»Sie, Kutscher, was san denn dös?!?«

»Dös san Kuttelfleck, Herr Oberinspektor – –.« »Dös seh' i, dös brauchens mir nicht erst zu sagen! Aber was für Kuttelfleck?! Rohe oder gesottene?!?«

»Gesottene, Herr Oberinspektor.«

»Die sind gesotten?!? Das wollen Sie einer Behörde weiß machen?!? Die sind nur in siedendes Wasser eintunkt, und gerade bevor sie sieden wollten, herausgezogen, weil rohe Kuttelflecke der Verzehrungssteuer unterliegen!«[237]

»Herr Oberinspektor, ich tu nur meine Pflicht, ich bin Kutscher im Haus, man hat mir das Wagerl mit ausgesottenen Kuttelflecken verpackt – – –.«

»Nun, auf der Fahrt werden sie bei der Hitze nicht wieder roh geworden sein. Rohes Fleisch muß verzollt werden. Ihr habt es in siedendes Wasser getaucht, damit die Oberfläche gesotten ausschaut. Aber bei uns gibt's keine Oberfläche, wir dringen in den Kern der Sache ein!«

Da kommt der kleine dicke Oberinspektor heraus und sagt: »Was gibt's da langes und breites, was is dös für ein Geschmus?!«

»Herr Oberinspektor, ich habe in diesem Wagen scheinbar gesottene, aber tatsächlich rohe Kuttelflecke vorgefunden – – –.«

Der Oberinspektor wirft einen Blick auf die Ware, wie Billroth, Chrobak, Chwostek auf nicht ganz regelrechte Organe.

»Die Kuttelfleck sind roh; Verzehrungssteuer oder zurück!«

Der Kutscher schwang sich infolgedessen auf den Bock und raste wahrscheinlich viele Wegstunden zurück, da er einer unbesiegbaren Macht entgegenstand.

Ich dachte: »Meiner Ansicht nach sollten Kuttelflecke überhaupt, sei es roh oder ausgesotten, mit einer riesigen hohen Verzehrungssteuer für eine kultivierte Großstadt belegt werden, denn es ist ein fades, geschmackloses Fressen ...«

Einige Tage später sagte mir ein Freund: »Seh'n S' Altenberg, das is halt Ihr Fehler, Sie san halt ein Dichter und außerhalb des Lebens. Kuttelfleck, in[238] den Speisekarten ›Löser‹ benamset, sind geradezu eine Delikatesse. Schauen's solche Sachen sollten S' halt nicht schreiben, davon verstehen Sie nichts. Über die Frauenseele haben Sie wirklich manchmal ganz richtige und sogar aparte Einfälle – – –. Sie sollten sich dafür gerade einsetzen, daß Kuttelflecke auch roh nach Wien gebracht werden dürfen, ohne der Verzehrungssteuer zu unterliegen. A jeder kann net Rebhendeln fressen, mein lieber Herr Dichter. Dös merken's Ihnen!«[239]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 236-240.
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