Das neue Kleid

[210] »Kommen Sie morgen mich anschau'n in meinem neuen Kleid – – –!«

Ich aber war nicht dazu bereit.

Ich kam nicht Dich anzuschau'n in Deinem neuen Kleid.

Und es that mir gar nicht leid.

Hättest Du gesagt: »Morgen dürfen Sie meine Fingerspitzen berühren – – –«,

ich hätte die Nacht schlaflos verbracht,

hätte bei Schnee und Wind an deinem Thore gewacht,

hätte nichts gegessen, nichts getrunken,

wäre vor Sehnsucht umgesunken.

Oh Gott, wir leben doch im lebendigen Leben,

können daher es nicht billiger geben!

Für leeren Ritterdienst bin ich zu alt,

für echten Liebesdienst bist Du zu kalt!

Dein altes Kleid und Dein neues Kleid

schaffen mir nur Herzeleid!

Ein jedes Deine Schönheit barg

wie ein Sarg.

Hättest Du zu mir gesagt: »Morgen dürfen Sie meine Fingerspitzen berühren – – –«,[210]

ich hätte die Nacht schlaflos verbracht,

hätte bei Schnee und Wind an Deinem Thore gewacht,

hätte nichts gegessen, nichts getrunken,

wäre vor Sehnsucht umgesunken!

So aber warst Du gnädig wie alle Frauen:

»Sie dürfen mich morgen im neuen Kleid erschauen!

Da kam ich nicht.

Ich Wicht!

Ich dachte an Deine geliebten Finger

und von meiner Liebe nicht geringer,

trotzdem ich nicht kam, Lieblichste der Frauen,

Dich im neuen Kleide anzuschauen![211]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 210-212.
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