Flirt

[60] »Ich sitze zum erstenmale mit einem Dichter,« sagte sie und erschauerte gleichsam innerlich.

Er sagte: »Wunderbare Hände haben Sie, Fräulein – – –.«

Sie fühlte: »Ein wirklicher Dichter – – –!«

Dann sagte er: »Sie sind bleich; wie ermüdet. Sie dürfen sich morgens nie, nie, nie aus dem Schlafe wecken lassen. Wer weckt Sie denn?!«

»Die Mama.«

»Der Schlaf ist das wirkliche, vielleicht das einzige Gnadengeschenk der sonst harten und unerbittlichen Natur!«

Sie fühlte: »Wie er sich ausdrückt! Ein wirklicher Dichter!«

Dann sagte er: »Ich möchte, wie Jesus Christus für die allgemeinen Dinge, wie der Herr von Egydi, Liebknecht und Tolstoi für Anderes, ein Prediger sein nur für die Heiligkeit des Schlafes! Der exaltirte Verkündiger des heiligen Rechtes der menschlichen Organisation auf ausgiebigen, von selbst endenden Schlaf! Wehe Dir, Verbrecher, Mörder, Vernichter, der Du einen schlafenden Menschen, einen, den die Natur zu heilen, zu erlösen[60] sich anschickt, weckest und dieselbe so in ihren heiligen Plänen störest, contrecarrirst!

Eine Mutter, die ihre Tochter aus dem Schlafe weckt, ist keine Mutter!

Eines soll Euch heilig sein, die Natur an ihrer geheimnisvollen Arbeit, dem erschöpften Organismus das wieder zu spenden, was die unerbittliche Tages-Schlacht ihm entrissen! Amen.«

Die junge Dame fühlte: »Ein Prophet, ein Fanatiker – – – schade!«

Später sagte er: »Frau!? Wer verdiente denn diesen Ehrentitel?!? Wenn ich ein Mädchen fragte, welche Sorte Reis die edelste wäre, sie verstummte, wüsste es nicht zu sagen! Eine Dame sagte zu mir einmal: ›Sie, mein lieber Herr, wir haben immer den feinsten Reis, nicht, Karl?! No, das wäre nicht übel, was glauben Sie denn eigentlich?!?‹ Aber sie hatte keine Ahnung, worin sich der ›feinste Reis‹ unterschiede!«

Die junge Dame fühlte: »Ein Koch – – schade!«

Dann sagte sie: »Nun, worin unterscheidet er sich?!?«

Er: »Jedes Reis-Korn muss vollkommen durchscheinend sein, wie edler Alabaster, ohne matte Stellen oder trübe. Es muss beim Kochen ganz weich und dennoch in voller Form bleiben, als wäre es noch hart und ungekocht! Fest und zart zugleich. Wie edle Menschen.«

Sie sagte ganz traurig: »Muss denn wirklich eine ›Frau‹ nur Reis verstehen können?!?«[61]

»Nein«, sagte er. »Aber Reis, eines der edelsten, zartesten, leichtverdaulichsten Nahrungsmittel, Wärme-Quelle für Lebens-Kälte, repräsentirt gleichsam die heilige Welt der Ersatz-Mittel für die verlorenen Kräfte! Dem Manne zu seiner Kraft, zu seiner Grösse, zu seinen Gluthen, zu seinem Höchst-Funktioniren verhelfen, verhelfen wollen, verhelfen können, heisst ›Frau‹ sein! Eine wirkliche Frau!«

Die junge Dame fühlte: »Das verstehe ich gar nicht. Ein Narr – – – schade!«

Dann sprachen sie noch über die Citronen-Presse aus Glas, das »Ei des Columbus« wie er es nannte. Das heisst, er sprach und sie gähnte innerlich, verständnisvoll und theilnehmend. »Wenn man bedenke, in früheren Zeiten, schrecklich. Den Daumen-Krampf konnte man bekommen und der halbe Saft blieb in der Citrone sitzen und die unnöthigen Kerne waren im Glase. Jetzt aber, mit der gläsernen Citronen-Presse für 50 Heller, der Saft rinnt Dir wie ein klares Bächlein in die untere Rinne, während die unnöthigen Kerne in der oberen Rinne liegen. Die Schale selbst aber ist innen trocken wie die Wüste Gobi. Jetzt erst könnte ein Wucherer und eine Cocotte sagen: ›Ich habe ihn ausgepresst wie eine Citrone!‹«

Die Freundinnen beneideten das junge Mädchen schrecklich, dass der Dichter sich mit ihr so lange und so eindringlich abseits unterhielte.

Die Eine sagte: »Worüber könnten sie sprechen?! Ich habe keine Ahnung.«[62]

Die Andere: »Nun, über Maeterlinck oder höchstens noch über Ibsen.«

Die Dritte sagte: »Über die Liebe!«

Die Vierte: »Über den Ehebruch natürlich.«

Die Jüngste aber dachte: »Ist es nicht einerlei, worüber man mit einem Dichter spräche – – –

man spricht mit einem Dichter!«[63]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 60-64.
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