Götzendämmerung

[83] Schön war sie, schön wie Kytheréa, die Meer-Entstiegene, die mit ihren weissen Fingern sanft den tropfenden Ozean aus ihrer blonden Haarfluth ausdrückte. Sie hiess Anita.

Mit 14 Jahren wirkte sie Wunder bereits und wie der grausigherrliche blinkende Magnetberg zog sie die Lebens-Schiffchen an mit ihren Schiffern und sie zerschellten.

Siehe! Alle Knaben des Gymnasiums wurden zu Männern bei ihrem Anblicke und alle Männer zu Gymnasialknaben! Und einer der Knaben steckte ihr einen Zettel zu, auf welchem geschrieben stand: »Ich sehne mich zum Sterben nach Ihnen, Anita –.«

Da fühlte sie: »Von so einem Satze kann man leben, leben!«

So erhielt sie die süsse wunderbare Erkenntniss, dass eine ungeheuere göttliche Macht in ihr wohne, ausströmend wie in goldenen Strahlen auf kalte schattige Menschen, Licht und Wärme bringend aus den Mysterien eigenen Sonnensystemes darbenden Erden! Und sie erkannte, dass diese Macht ausströme wie Weltelektrizitäten von ihrer blonden Haarfluth, ausströme von ihren blaugrauen Augen,[83] ausströme von ihren beiden prangenden Brüsten, von ihren weissen Händen, von ihren schimmernden seidenen Gewändern! Das erkannte sie.

So lebte sie, als sie zu leben anfing, wie die grossen Göttinnen – – vom Geliebt werden! Vom Gesange betender Menschen lebte sie, von den Klagelauten feuchter Augen, von den Psalmen berauschter Herzen, von Weiherauch und vom Bekränzen, von Flammen, von Gebeten lebte sie, von Liebesworten und Zerstörungen. Was man ihr brachte, nahm sie dankbar an und gab ein Lächeln. So wuchs sie, gebend, Licht und Wärme gebend, aus den Mysterien eigenen Sonnen-Systemes milde Frühlingsstrahlen spendend und heftige Sommerhitze und wieder sich zurückziehend zur Wintersonne!

Einmal sagte sie lächelnd von den Herren: »Meine Erden!«

Einmal sagte sie: »Einen einzigen glücklichen Menschen kenne ich, meine alte Badefrau. Sie darf mich schauen in meinen Prächten!«

Ein anderesmal, in einer Schwimmschule, rief sie lachend aus der Kabine: »Meine Damen, wer mich schauen will, zahlt blos eine Krone. Das Geld gehört der armen Marie.«

Und viele Mädchen gingen und bezahlten eine Krone.

Nur eine kam nicht.

Und Kytheréa sagte zu dieser: »Stephanie, warum kamst Du nicht, meine Pracht zu schauen?«

»Die Anderen«, erwiderte Stephanie, »kamen[84] nicht, um Deine Pracht zu schauen, Anita, sondern um einen Fehl an Dir zu entdecken. Ich aber weiss, dass Du fehlerlos bist. Denn nur, wer ohne Fehl ist, verliert das Schamgefühl, erhält den Frohsinn griechischer Nacktheit, Anita!«

Einmal kam ein Gott – ein lyrischer Dichter, schlug die Harfe, sang: »Kytheréa, Meer-Entstiegene – –.« Weiter kam er nicht.

Und sie sagte: »Was sind Sie, was stellen Sie vor?!«

»Ich?! Der Götter Sohn bin ich, ein Dichter.«

Da hielt sie den jungen Mann für ihresgleichen, gab ihm ihr bestes Lächeln. Aber er wünschte mehr, mehr. Da berührte sie ihn an der Schulter und sagte zu ihm: »Sie haben mich betrogen. Kein Götter-Sohn sind Sie!«

»Wieso wissen Sie es?«

»Sie können nicht leben von Nektar und Ambrosia. Sie müssen fressen wie der Stier auf der Wiese. Gehen Sie weg!«

Und er dachte: »Nun, eine neue Impression habe ich bekommen.«

Und noch später kam ein wirklicher Götter-Sohn.

»Ah, Du bist auch so Einer,« dachte sie und gab ihm ihr flüchtigstes Lächeln. Aber er lebte von diesem Lächeln! Da spürte sie, dass es ein wirklicher Götter-Sohn sei, der von Nektar und Ambrosia leben könne und Ihresgleichen sei.

Und dann kam eine andere Generation, eine aufgeklärte.

Und Einer, der kein Heide mehr war und für[85] welchen es keine Kytheréa's mehr gab mit ozeantropfenden Haaren und keine griechischen Tempel mit Andachten, sagte: »Ich begehre Sie zum Weibe, Anita. Ich werde Sie achten und betreuen. Aber dieses heidnische Lächeln müssen Sie aufgeben, meine Liebe. Ueberlassen Sie diese Dinge der Kàlmár, der Dirckens, der Othérô, den gefeierten Göttinnen.«

Und sie hielt ihn von da an für den Wahrhaftigsten, weil er kein Heide war und ihres Lächelns nicht achtete. Und sie gab das heidnische Lächeln auf. Und als sie dieses heidnische Lächeln aufgegeben hatte, welches sie zur Herrin gemacht hatte über die Welt, über die Knaben in den Gymnasien, über die Rechtshörer und die Mediziner an den Universitäten, über die Kunstschüler an den Akademieen, über die Offiziere, über die Fabrikantensöhne, über die falschen Dichter und über die echten, hörte sie selbst auf, Heidin zu sein, Kythérea die Meer-Entstiegene, wie der falsche Dichter es gesungen und der echte Dichter es gefühlt hatte, und wurde Frau Anita T., eine Dame so und so, welche jeden Donnerstag Empfang hatte mit Souper, die Logen-Abende ausgenommen.

Und ihr Gatte sagte: »Ich will nicht weiter über dieses Thema philosophiren – – aber ich weiss, dass ich Dir den Frieden gegeben habe, Anna. Es war die höchste Zeit. An Dir selbst wärest Du zu Grunde gegangen. Nicht?!«

»Jawohl,« sagte ernst, ohne Lächeln die Entgötterte – – »ich danke Dir!«[86]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 83-87.
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