Gift

[23] »Warum trennst Du Dir diesen neuen kleinen Stehkragen von der Blouse, Dodo?!«

Sie gab keinerlei Antwort.

»Ist er vielleicht bereits unbrauchbar?!«

Keinerlei Antwort.

Dieses Schweigen erregt das Nervensystem eines Fragenden wie ein Gift, reizt das ganze Gehirn, macht es momentan empfindlich wie Kratzen oder Fieber die Haut.

»Du, hörst Du?!«

Das junge Mädchen legte in Ruhe ein Blättchen Papier hin. Die Mama las diese Notiz aus einer englischen Zeitung:

»Frauenhals. Ihr geht jahrelang unklug um mit Eurem kostbaren Besitze, dem Halse, Damen! Lasset sofort alle steifen Umhüllungen weg. Nur in äussersten Freiheiten kann jedes Organ gedeihen und alles überhaupt und zu seinen Schönheiten gelangen; jeder Zwang ermordet irgend etwas. Das Mieder die Brüste, der Kragen den Hals, die heutige Ordnung die Seele. Alles wird schlaff durch Einengung, elastisch jedoch durch Freisein! Verbannet alle Leinenkragen, trennet die steifen Dinge von[23] Euren Blousen fort, nehmet weiche seidene oder gehet bloss! Vertädderlt Euren Hals nicht, lasset ihn sich tapfer wehren gegen Kälte und Sturm. Jeder Luftzug, jeder Sonnenstrahl bringt Deinem Halse Schönheitskräfte, Mädchen! Turnet! Turnen modelliert Deinen Hals. Er sei schön in Ruhe, noch schöner sei er in Bewegung! Ein Blähhals ist fast ein moralisches Verbrechen.«

Ein Bouleversement entstand in der Dame, wie wenn ein Dienstbote ein Service zerschlagen hätte oder um eine Stunde zu spät nach Hause gekommen wäre oder Abzugbier gebracht hätte statt Lager. Man möchte am liebsten kreischen, die Zähne fletschen, kurz wie der Gorilla auf den Feind losgehen mit gesträubtem Haupthaare und herunterhängender bebender Unterlippe.

Die Dame sagte: »Man müsste direct die Zeitungen vor Dir verstecken. Woher hast Du dieses?«

Wie wenn man sagte: »Wo fandest Du das Fläschchen Laugenessenz?!«

»Es lag in der Welt, wie alle Wahrheiten. Daher nahm ich es.«

»Du bist blödsinnig. Du, Dodo, bitte, trenne den Kragen nicht ab, ja?!«

Keinerlei Antwort.

»Du, Dodo, trenne den Kragen nicht ab. Ich dulde es nicht. Ich dulde es nicht, Dodo. Ich dulde es einfach nicht.«

Wie wenn die Schweizer Lanziere stünden,[24] eine Erz-Mauer, todesbereit, war des Mädchens Sinn.

Plötzlich lächelte sie über die Nichtigkeit des Anlasses.

»Weshalb lachst Du?!«

Das junge Mädchen trennte den Kragen los, schnitt ihn entzwei, liess ihn fallen.

Der Gorilla stöhnte innerlich, das Haupthaar sank.

Die Dame sagte sanft: »Dummes Mädel – –«.

Das Mädchen nahm die Hand der Mama, küsste sie und sagte:

»Du Mama, das verstehst Du nicht. Ihr waret einstens von selbst vollkommen, Nichts zerstörte Euch, rüttelte an Euch. In Euren Stuben sasset Ihr, gedankenleicht und seelenleicht, mit Euren leichten Mousselinekleidern und Euren komischen Frisuren und Einer kam und nahm Euch wegen nichts.

Wir aber – – –«

»Also ich bin eine ganz Bornierte?! Eine Unvollkommene?!«

Das junge Mädchen, sanft: »Wir aber müssen uns von uns aus vervollkommnen!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Heute kaufe ich mir kleine Hanteln von 1/4 Kilo Gewicht.«

»Du bist verrückt, Dodo. Hast Du nicht drei Jahre lang bei Chimani geturnt?!«

»Man muss ewig turnen, Mama, nicht nur drei Jahre lang bei Chimani.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[25]

Die Dame sagte beim Souper: »Dodo trägt keine steifen Krägen mehr seit heute.«

Der Vater dachte: »Diesen Tric mit den elektrischen Kabeln hätte niemand anderer für meinen Clienten herausgetüftelt als ich, als ich!«

Dann sagte er: »Wie meinst Du, Mama?!«

»Nichts – – –« sagte die Dame und strich die Salzfässer glatt und drückte kleine herzige Monde hinein mit der Messerspitze.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Fräulein Dodo trug dennoch nicht lange Zeit weiche seidene Umlegekrägen oder sogar den Hals ganz bloss.

Tante Z. hatte nämlich zu Mama gesagt: »Weisst Du, was es ist?! Ein Scandal ist es, meine Liebe.«

Aber abends, manchmal, wenn das junge Mädchen im Bette lag, nahm sie den alten Zeitungsausschnitt und las wie in einer Bibel die Forderungen der verehrten und geliebten unbekannten englischen Dame und dachte: »Mein Töchterchen wird freien Hals tragen und schön und stark sein, dass sie nackend durch die Strassen schreiten könnte in Wind und Wetter! Mein Töchterchen!«[26]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 23-27.
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