Der Recitator

[238] Eines Tages fand Er ein Buch in einem rothen Einbande, irgendwo in der Welt, auf einem Tische.

Sechs Jahre lang lag es von da an in seiner Nähe. Wie ein Hund, der Uns liebt. Das Buch liebte Ihn gleichsam, weil Er dasselbe liebte. Wirklich, Er wusste nicht mehr, »ist das Buch bei mir oder ich bei meinem Buche?!«

Immer wenn Er in diesem treuen Buche zu der Stelle kam: »Gestern sagtest Du zu mir: ›lieber Olaf‹ – – –; meinst Du es wirklich so, Lidwine?!« musste Er einen Augenblick innehalten, bevor er weiterlas. Dann las er weiter.

Dieses Innehalten wurde nie kürzer, im Laufe der Jahre.

Im fünften Jahre wurde es sogar um ein Stückchen länger. Und einmal, eines Abends, ganz lang. Man hätte vermuthen können, Er würde die Lectüre überhaupt diesen Abend nicht mehr fortsetzen. So eine riesige Pause machte Er bei dieser Stelle. Aber auch an diesem Abende las Er das Capitel zu Ende und das ganze Buch. Nur wie Er zu den letzen Worten des Buches kam: »Glück ist Entsagung«, schloss Er das Buch und küsste es einigemale und umfasste es in tiefer Freundschaft mit seinen Fingern und küsste es wieder und wieder.[238]

An diesem Abende schlief es neben Ihm auf seinem Kopfpolster.

Niemand hatte eine Ahnung von diesem zärtlichen Verhältnisse dieses verschlossenen Mannes zu seinem Buche.

Aber manchesmal sagte man über Ihn: »Was hat Er?! Wie preoccupirt stellt er sich. Welches süsse Geheimniss, he?!«

Einer edlen Dame zeigte Er zuerst das Buch; und gab es ihr.

Die Dame las es. Bei der Stelle: »Gestern sagtest Du zu mir: ›lieber Olaf‹; meinst Du es wirklich so, Lidwine?!« machte sie eine Pause. Dann las sie weiter, zu Ende.

»Was ist denn mit Dir?!« sagte der heimkehrende Gatte.

»Nichts – – –« sagte sie und küsste seine liebevolle Hand und liess sie nicht mehr los, den ganzen Abend.

Nicht Dir und Einem gieb das Gute, das Du gefunden auf Deinen schweren Wegen! Gib es Allen!!

Gib auf die feige Vorsicht, gleichgesinnten Herzen Dich zu eröffnen!

Sei stark! Wirf's in die Welt! Und lass' Dich kreuzigen!!

Solches wuchs in seinem Herzen und bedrängte es.

Eines Abends trat Er in schwarzem Anzuge und weisser Cravatte in einen weiten wundervollen Saal, betrat ein kleines Podium, rückte ein wenig[239] an den silbernen Kerzenträgern, wartete ein bischen, und kühn und stark warf Er das Gute in die Welt! Nichts sah Er in dem weiten Raume als seinen Freund, das Buch, und dessen erste Leserin, die edle Dame, welche in der ersten Reihe sass mit ihrem Gatten. Als Er zu der Stelle kam: »Gestern sagtest Du zu mir: ›lieber Olaf‹; meinst Du es so?!« durfte er diesmal keine Pause machen. Selbstverständlich. Das erstemal in seinem Leben!

Doch in den Hörern hielt der Herzschlag an – –.

So las Er bis zu Ende.

Als Er zu Ende war, blieb Alles lautlos, wie in einer Kirche.

Auf jedem Antlitz lag das Buch geschrieben.

Er sah sein Buch in allen Herzen drin.

Da fühlte Er: »Ich warf das Gute in die Welt!« und »Amen!«[240]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 238-241.
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