»Der Cid« – Herr Winkelmann

[91] »Gnädige Frau, was werden Sie essen?!«

Die junge Dame war noch ein bischen abgespannt vom Theater. Sie wäre am liebsten in einem weiten runden Fauteuil gelegen, um auszuruh'n. Wenn Ihr dann Jemand langsam die Schuhe aufknöpfeln würde und sanft das Mieder aufhafteln und die sechs dicken gelben Schildkrotnadeln aus den Haaren nehmen und die braungoldene Fülle zwischen den ausgespreizten zehn Fingern leise herabgleiten lassen würde und – – –!?

Aber sie musste im Hôtel B. die Speisekarte studieren und dabei gerade sitzen, auf einem Sesselchen aus gespanntem Leder. Das ist nicht sehr amüsant.

»Ich bin nicht hungrig« sagte sie und sah die langen Colonnen von Speisen gleichgiltig an.

»Essen Sie eine Briesrose, sauce hollandaise – –« sagte Er.[91]

»Ja« sagte sie.

Sie legte den Schildkrotfächer neben sich hin, den Operngucker und das Spitzentaschentuch. Dann zog sie die Handschuhe langsam aus. Ganz langsam.

Sie rückte ihren Sessel: »Warum hast Du keine weite gebogene Lehne, Du?!«

Es trat jenes Stillschweigen ein, in welchem jeder denkt: »Ich sollte jetzt laut sagen ›Massenet‹, oder ›dieses Wiener Opern-Orchester – – –‹, oder ›die Musik – – –‹.«

Aber er sagte: »Briesrose ist eine Krankenkost, leicht verdaulich, nahrhaft, reizlos – – –. Aber wenn Sie nicht hungrig sind – – –.«

»Nein, gar nicht« sagte sie.

»Sie gehören zu jenen Instrumenten«, sagte Er, »in welchen die angeschlagenen Töne lange nachklingen. Ihre Seele nimmt immer Pedale.«

»Ich bin müde« sagte sie.

»Sie denken an Winkelmann« sagte Er.

»Ja; so stelle ich mir die kindlichen naiven Helden vor, Die, die nichts überlegen, Die, die »sind«!«

Er sagte: »Das ist sehr richtig. Und doch ist das naturgemäss; zuerst das »Sein« ohne das »Überlegen« und dann das »Überlegen« ohne das »Sein«.«

»Siegfried und Hamlet«, dachte sie. Aber sie war zu bescheiden, um das auszusprechen. Er war ja der Mann, der grosse Musiker, der Philosoph, der Denker –. Sie war das Weib – –. Sie durfte nur träumen – –.

Er sagte: »Das gefällt mir, dass Sie nicht schwärmen. Sie sind wie erdrückt – – –!«[92]

»Mann«, dachte sie.

»Hätten Sie vielleicht lieber die Briesrose gebacken gehabt und Spinat?!«

»O nein«, sagte sie und lehnte sich in den harten geraden Sessel.

Sie dachte: »Was Er da gesagt hat vom ›Überlegen‹ – – –! Der Mann ist doch etwas Anderes. Er hat tausend Gedanken und comprimirt sie in zwei, in einen – – –; oder er verstreut sie so. Dann denkt Er an Bries und Spinat. Er ist so kühn, so gedankenfrech. Aber wir glauben immer, dass Er Uns missachtet und dass Er Uns Unrecht thut – –.«

Er sagt: »So und so – – –«; und da denken Wir: »Siegfried und Hamlet – – –«; und Wir sind doch nur seine Knechte! Und dann sind Wir wieder fertig – – – fertig! Ein Gedanke ist wie eine Offenbarung für Uns. Wie Wir so über Uns selbst hinauswachsen können – – –! Ah, denken Wir, jetzt sind Wir Ihm gleich – – –! Bettler sind Wir! Er giebt Uns zwei Kreuzer und Wir laufen hin und kaufen Uns dafür eine Semmel – – –. Für Ihn giebt es keine Erniederung: Bries gebacken oder mit »Sauce hollandaise«, das occupirt Ihn. Er ist reich, Er hat zehntausend Gedanken –. Wir aber müssen ewig auf der Hut sein. Wir können nicht denken: »Winkelmann ist ein Gott und Briesrose ist ein gesundes Essen – – –. Wir müssen empfinden: »Winkelmann, Winkelmann, Winkelmann, Winkelmann – – –.«

Und dann dürfen Wir denken im »realen Leben«: »Lege deine Hand leise auf mein Knie – – –. Ich[93] werde nicht zucken – – denn Du bist der Mann, der Grosse, der Zwingende – – und ich bin das Weib.« Ah – –Winkelmann! Fernstehender! Wie nah bist Du!«

Der grosse Musiker, Philosoph und Denker stützte die Elbogen auf den Tisch und sah dem jungen Weibe in's Gesicht.

Sie fühlte seinen Blick – –.

Da kam die Briesrose im holländischen Safte – –.

Er nahm den grossen Löffel und übergoss die weissen Stückchen auf ihrem Teller mit der gelben duftenden Crême.

»Gut?!« fragte Er, wie eine Mutter ihr Baby.

Er hätte sie gern auf seinen Schoos genommen und ihr mit einem Löffelchen die kleinen saftumhüllten Briesstücke in's Mäulchen gesteckt – – –.

»Danke« sagte sie.

»Das Weib«, dachte Er, »das Weib – – –! Musik und Heldenthum – –. Wir bleiben doch Wir. Aber so einem jungen Geschöpfe zuzuschauen essen und sie unter seiner Obhut zu wissen – – – da verliert man sich! Es ist wie ein innerer Rausch. Alle Gedanken sind weg. Da wird man ein kindlicher naiver Held und möchte sie auf starken Armen durch die Welt tragen – – –. Bettler sind Wir – – –!«

Sie aber wusste Nichts von alledem.

Sie sass da und ass – – –.

Dann lehnte sie sich zurück und dachte an ihren Helden – – –.

Der Cid – – Herr Winkelmann![94]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 91-95.
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