Kunst,

[293] nun will ich über Dich sprechen, so wie ich Dich verstehe und auffasse mit meinem Herzen:

wie ein edles Phantom bist du bisher gewesen, wie ein wundersames Gespenst, das am hellichten Alltage der Strasse vor den geschäftigen, allzu geschäftigen Leuten auftaucht! So entfernt von ihrem Alltagdasein, so ohne Beziehung zu ihrem Selbsterhaltungstriebe, der doch immer ist und wirkt! Ein mattes Überflüssiges, geschaffen von überflüssigen Künstlers Gnaden! Eine luxuriöse Tändelei! Wir wollen dich aber nun lebendig machen, dich dem Leben des Alltages näherrücken, du blut-, du fleischloses Gespenst »Kunst«! In die Stunde wollen wir dich rücken, die erlebt wird, dass du befruchtend und bereichernd wirkest auf Alltagmenschen!

Die grösste Künstlerin vor allem ist die Natur und mit einem Kodak in einer wirklich menschlich-zärtlichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze. Sehet euch die Birken an, die Pappelbäume, zur Winters- und zur Sommerszeit, die Hausgärten voll Schnee und strohumhüllten Rosenstöcken. Sehet euch den rotgrauen Käfer aus Ceylon an oder die drappfarbige Muschel aus dem Ozean – und ihr werdet die Künstlerin »Natur« in euch aufnehmen mit liebevoll bereicherten Augen. Und der blaubraun schillernde Schmetterling aus China, auf weisses[293] Holz gespannt unter Kristallglas, ist schöner als alles, was ihr von Menschenunzulänglichkeit in euren öden Zimmern aufhäuft! Auf euren nippes-verunreinigten Tischen!

Die Kunst ist die Kunst, das Leben ist das Leben, aber das Leben künstlerisch zu leben, ist die Lebenskunst!

Wir wollen die Kunst, dieses Exzeptionelle, dem Alltage vermählen. Die Hand der Dame R.H. ist ein Kunstwerk Gottes. Oder das im Volksgarten spielende Kind R.O. Oder das Schreiten eines Alt-Aristokraten über die Strasse. Der Reichtum des Daseins, nahegerückt für die, deren notwendige Geschäftigkeit sie hindert, ihn zu erleben! In deinen Tätigkeiten eingekapselt, kannst du nicht rechtzeitig Halt machen vor einem regenbeperlten Spinnennetz im abendlichen Walde und kannst nicht schauen, staunen und verharren! Wir wollen dich erziehen, das heisst aufhalten in deinen Rastlosigkeiten, auf dass du verweilest, schauest, staunest! Es gibt soviel zu schauen und zu staunen! Innezuhalten, zu verharren! Stillgestanden, Allzugeschäftiger! Nütze deine Augen, den Rothschildbesitz des Menschen! Wir wollen euch nur zeigen, woran ihr blindlings vor überraset! Es gibt Menschen, die nichts zu tun haben. Vollkommen Überflüssige des Daseins. Mit weit aufgerissenen Augen schauen sie und schauen. Diese hat das Schicksal bestimmt, die Vielzuvielbeschäftigten zum Verweilen zu bringen vor den Schönheiten der Welt![294]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 293-295.
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