Sie betrachtet die Herrlichkeit der himmlischen Wohnungen und des ewigen Lebens

[217] 1

Wie lieblich sind die Wohnungen,

Die du uns zubereitest.

Wie herrlich die Belohnungen,

Zu welchen du uns leitest!

Wie wunderschön

Ist das Getön,

Das wir von hunderttausend Chören

Bei dir, Herr Jesu, werden hören.


2

Mein Herze springt vor großer Freud

Und wünschet mit Verlangen,

Die Bleibstadt solcher Seligkeit

Aufs ehste zu empfangen.

Ach, ach, mein Gott,

Wo ist der Tod?

Der mir verkürze dieses Leben,

Daß du mir jenes könnest geben.


3

Wie selig ist der Heilgen Schar,

Die allbereit genießen,

Was wir auf Erden mit Gefahr

Noch erst erstreiten müssen![217]

Sie sitzen dort

Im Freudenport,

In stolzem Fried und sichern Grenzen,

Geschmückt mit ewgen Lorbeerkränzen.


4

Kein Unglück kann sie mehr berührn,

Kein Schmerz und Weh sie plagen.

Kein Irrgeist kann sie abwegs führn,

Ihr Herz kein Kummer nagen.

Es kommt kein Leid

In Ewigkeit,

Kein Tübsal, Krieg, noch Angst, noch Trauern

In ihre hochgeführten Mauern.


5

Sie dürfen nicht des Mondes Schein,

Auch nicht des Lichts der Sonne.

Das Licht, das ihnen ist gemein,

Ist Gottes Glanz und Wonne.

Christus, das Lamm,

Gibt allensamm

Mit seiner Gottheit Blitz und Strahlen,

Daß sie wie Sonnen selber prahlen.


6

Sie schaun nach aller Herzenslust

Des Höchsten Angesichte

Und bringen ihm aus tiefer Brust

Die lieblichsten Gedichte.

Sie singen ihm

Mit Seraphim

Das Sanctus Sanctus hin und wieder

Und tausend andre neue Lieder.
[218]

7

Die Stadt ist lauter reines Gold,

Die Mauern edle Steine.

Von Perlen, denen man so hold,

Sind alle Tore feine.

Kein Tempel ist

Je da erkiest,

Denn Gott und's Lamm, das ist in ihnen

Ihr Tempel selbst, da sie ihm dienen.


8

Im mitten sieht man einen Quall

Wie einen Strom entspringen

Und durch die Gassen überall

Mit süßem Rauschen dringen.

Der Strom, der heißt

Der heilge Geist,

Der alle Selgen ewig tränket

Und in das Herze Gotts versenket.


9

Die Heiligen, die er alldar

Geführet hat zusammen,

Die sind entzündet alle gar

Mit ewgen Liebesflammen.

Sie nahen sich

Ganz turstiglich,

Des Königs Jesu Mund zu küssen

Und seines Kusses zu genießen.


10

Gott selber macht sich so gemein,

Daß er sich alln ergibet

Und alle, wie sie groß und klein,

Mit gleicher Liebe liebet.[219]

Er drückt mit Lust

An seine Brust,

Was Christus auf der Welt erworben,

Da er gekreuzigt ist gestorben.


11

Es wird so große Seligkeit

Und großer Lohn gegeben,

Daß sie durch alle Ewigkeit

Im Überflusse leben.

Man ißt und trinkt,

Man jauchzt und springt,

Man wandelt stets auf frischen Weiden,

Genießet Gotts und seiner Leiden.


12

Ach Gott, was muß für Freude sein,

Wenn man die alle siehet,

Die hier in Kreuz, Angst, Not und Pein

Wie Röselein geblühet.

Wenn man betracht

Die große Pracht

Der Väter, Märtrer und Propheten,

Die sie verdient in ihren Nöten.


13

Wenn man der Keuschheit güldne Kron

Die Jungfern siehet tragen

Und die Bekenner von dem Lohn

Der letzten Treu hört sagen.

Wenn man bei dir

In Fürsten Zier

Die lieben Freunde wieder findet,

Die hier der Tod vonsammen bindet.
[220]

14

Mein Jesu, hilf mir doch dazu,

Daß ich nach diesem Leben

Mit solcher Wonn und solcher Ruh

Bei dir mag sein umgeben.

Daß ich dein Licht

Und Angesicht

Mit allen Heilgen und Jungfrauen

Kann lieben und ohn Ende schauen.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 217-221.
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