Die Psyche seufzt nach ihrem Jesu wie ein einsames Turteltäublein nach seinem Gemahl

[31] 1

Wie ein Turteltäubelein

In der Wüsten seufzt und girrt,

Wann es sich befindt allein

Und von seinem Lieb verirrt,

Also ächzet für und für,

Jesu, meine Seel nach dir.


2

Keine Stunde geht fürbei,

Daß ich nicht gedenk an dich

Oder ja ganz innig schrei,

Jesu, Jesu, denk an mich!

Ach wie lange soll ich doch

Dieses Elend bauen noch!


3

Eine Seele, die dich liebt,

Will sonst nichts als deinen Kuß,

Und drum bin ich so betrübt,

Daß ich den entbehren muß.

Ach, wie lange muß ich sein

Ein so armes Täubelein!


4

Meine Seel ist ja die Braut,

Die du dir hast selbst erkorn,

Die dein Vater dir vertraut

Und dein Geist hat neugeborn.

Ach, wie muß sie so allein

Und ohn ihren Bräutgam sein!
[31]

5

Ofte nennst du mich dein Kind,

Das dein Geist so zärtlich liebt

Und sich gerne bei ihm findt,

Wanns aus Liebe wird betrübt.

Und ich muß doch jetzo sein

Ein verlassnes Waiselein.


6

O, erscheine doch, mein Licht,

Deinem armen Käuchelein,

Weil ihm nichts als du gebricht

In dem finstern Leibeshain.

Ach Herr, laß es doch geschehn,

Daß ich dich mag bei mir sehn!


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 31-32.
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