Sie findet ihn nach vielem Suchen in ihrem Herzen

[321] 1

Psyche, voll heilger Liebsbegier,

Voll feuriger Verlangen,

Ihrs Herzens Schatz und Seelenzier,

Den Bräutgam, zu empfangen,

Lief hin und wieder auf die Straßen

Und sucht ihn emsig ohne Maßen.
[321]

2

Sie lief und fragte fort und fort,

Wo ihr Geliebter stünde?

An welchem End, an welchem Ort

Ihr Jesus sich befinde?

Es sollte, wer nur kam, ihr sagen,

Wo sie den Heiland könnt erfragen.


3

Er liegt, sprach sie, im Krippelein

Und an der Mutter Brüste.

Da find ich ihn, ein Kind und klein,

Daß ich gleich mit ihm niste.

Er aber war nur schon entwöhnet,

Sie hatte sich umsonst gesehnet.


4

Da lief sie fort und fiel ihr ein,

Daß er im Feld zu finden.

Sie sprach: er ist ein Feldblümlein,

Da, da werd ich ihn binden.

Er aber war nicht mehr auf Erden,

Konnt ihr auch also da nicht werden.


5

Wart, sprach sie, er war gern allein,

Ich will ihn wohl ergehen

Und lief in alle Wüstenein,

Auf alle Berg und Höhen.

Konnt ihn doch auch da nicht umfassen,

Weil er die allbereit verlassen.


6

Drauf dachte sie, ihn an dem Stamm

Des Kreuzes zu umgeben,

Weil er daran, als Bräutigam,[322]

Gelassen Leib und Leben.

Sie konnt ihn aber nicht bekommen,

Die Mutter hat ihn weggenommen.


7

Da eilte sie mit allem Fleiß,

Ihn suchend in dem Grabe.

Da, sprach sie, wird er mir zu Preis,

Da ists, wo ich ihn habe.

Er aber war schon auferstanden

Und im Grabe nicht vorhanden.


8

Dann schwang sie sich mit Geist und Sinn

In alle Himmelssäle.

Ich weiß, sprach sie, weil er dahin,

Daß ich nicht seiner fehle.

Er aber war auch da nicht drinnen,

Weil all ihn nicht begreifen können.


9

Als dies geschah, sank sie vor Leid

In Ohnmacht und fiel nieder,

Hört aber gute neue Zeit,

Da sie zu sich kam wieder:

Sie sollt in ihren Grund eingehen,

Da würd er sein und ihr gestehen.


10

Stracks kehrte sie sich in sich ein

Und sucht in ihrem Herzen,

Da ward gemindert ihre Pein

Und abgekürzt die Schmerzen.

Sie fand den Liebsten ihrer Seelen

In ihrer eignen Herzenshöhlen.
[323]

11

Ach Törin, schrie sie, die du Gott

Von außen meinst zu finden!

Und kannst dich in dir selbst von Not

So leicht durch ihn entbinden.

In dich, in dich mußt du dich kehren,

Wo du willst stillen dein Begehren.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 321-324.
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