Sie erzählt, wie ihr Freund gestaltet ist

[239] 1

Ihr Schäferinnen, die ihr bald

Wollt wissen, wie mein Freund gestalt,

Kommt, tretet her in einen Reihen,

Ich wills euch sagen und erfreuen.


2

Mein Freund ist wie ein Röselein

Wohlriechend, schön, ausbündig fein.

Ist mit des Himmels Tau begossen,

Viel Dornen haben ihn umschlossen.


3

Mein Freund ist wie ein Täubelein

Sanftmütig, liebreich, weiß und rein.

Betrübt niemand, erfreuet alle,

Ist ohne Falsch, hat keine Galle.
[239]

4

Mein Freund ist wie ein Lämmelein,

Das nie kann ungeduldig sein.

Huldselig, sittsam an Geberden

Ist er vor allen auf der Erden.


5

Mein Freund ist wie der Morgenstern,

Der sehr erfreulich leucht von fern.

Ergötzend ist sein Angesichte

Vor aller andern Sternen Lichte.


6

Mein Freund ist wie der Sonnen Glanz,

Wenn sie die Welt bescheinet ganz.

Er kann mit seiner Augen Strahlen

Ein Licht in Leib und Seele malen.


7

Mein Freund ist wie das Firmament,

Beständig aber doch behend.

Bald steigt er auf, bald steigt er nieder,

Bald geht er hin, bald kommt er wieder.


8

Mein Freund ist wie der ewge Blitz

In des durchlauchtsten Gottes Sitz.

In ihm zerschmelzen alle Herzen

Von sich und ihren Liebesschmerzen.


9

Also, ihr Mägdlein jung und alt,

Ist mein geliebter Freund gestalt.

Wollt ihr ihn sehn und auch genießen,

So sucht ihn und fallt ihm zu Füßen.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 239-240.
Lizenz:
Kategorien: