Sie betrachtet seine am Kreuz ausgespannten Arme und Hände

[106] 1

Was bedeut dies, ihr Jungfrauen,

Daß wir unseren Bräutgam schauen

Mit ausgestreckten Armen stehn?

Daß er beide Händ ausbreitet

Und sein Blut heraußer spreitet

Und daß er sich läßt so erhöhn?


2

Tut ers nicht, uns zu erlangen,

Zu umhalsen, zu umfangen

Und unsre Seel zu sich zu ziehn?

Freilich ja, er will vom Bösen

Seine Braut hiermit erlösen,

Drum geht doch näher zu ihm hin.
[106]

3

Gehet, daß ihr seht die Plagen

Seiner Hände, die durchschlagen

Und an das Kreuz geheftet sein.

Daß ihr seht, mit was für Wunden

Euer Bräutgam sich verbunden,

Euch zu erretten aus der Pein.


4

Schaut das Leiden seiner Armen,

Daß es einen Stein erbarmen

Und einen Stock bewegen sollt!

Ist nicht alles so zerrenket,

Ausgezogen und gekränket,

Wie seine Feinde selbst gewollt!


5

O der großen Liebesflamme,

Die ihn an des Kreuzes Stamme

So ausgespannet stehen macht!

Hat man vormals auch gesehen

Solches Wunderwerk geschehen,

Als der verliebte Gott erdacht?


6

Dank sei dir für diese Schmerzen,

Jesu Christ, von ganzem Herzen

Und für die große Mildigkeit!

Denn dadurch hast du erworben

Meine Hände, die verdorben

Durch Neid und Unbarmherzigkeit.


7

Gib, daß ich nicht müde werde

Guts zu tun auf dieser Erde

Mit meinen Händen, was ich kann.

Daß ich deine Leiden preise

Und dir wieder Dienst erweise,

Weil du hast mir so viel getan.
[107]

8

Daß du mir an meinem Ende

Reichest deine treuen Hände

Und seligmachenden Verdienst.

Daß ich in den keuschen Armen

Hocherfreulich mög erwarmen

Mit unaufhörlichem Gewinst.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 106-108.
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