Einunddreißigste Rune.

[89] Ihre Hühnchen zog die Mutter,

Einen großen Schwarm von Schwänen,

Setzt die Hühnchen hin zum Zaune,

In den Fluß sie ihre Schwäne;

Kommt ein Adler, scheucht sie aufwärts,

Kommt ein Habicht und zerstreut sie,

Kommt ein Falke und zersprengt sie:

Einen trägt er nach Karjala,

Führt ins Russenland den zweiten,

Läßt den dritten in der Heimat.


Der nach Rußland Fortgeführte

Wuchs heran zum Handelsmanne,

Der nach Karjala Getragne

Wuchs heran und hieß Kalerwo,

Der zu Haus Zurückgelaßne

Namens Untamoinen mußte

Zu des Vaters Unglück wachsen,

Zu dem Herzeleid der Mutter.


Untamoinen setzt die Netze

In den Fischbezirk Kalerwos;

Kalerwoinen sieht die Netze,

Nimmt in seinen Sack die Fische;

Untamo, der Arggesinnte,

Wird gar böse und verdrießlich,

Schafft sich Krieger mit den Fingern,[90]

Mit den Händen einen Haufen,

Um der Fische Eingeweide,

Um der Barsche Brut zu streiten.


Streiten beide da und kämpfen,

Keiner wird des andern Meister;

Schlägt er heftig auf den andern,

Wird er selber auch geschlagen.


Darauf nun zum andern Male

An dem zweiten, dritten Tage

Säte Kalerwoinen Hafer

Hinter Untamoinens Wohnung.


Untamoinens Schaf, das kecke,

Fraß den Hafer Kalerwoinens;

Kalerwoinens Hund, der böse,

Riß Untamos Schaf in Stücke.


Untamo droht nun gewaltig

Kalerwoinen, seinem Bruder,

Kalerwos Geschlecht zu töten,

Groß und klein dort zu erschlagen,

Zu vernichten das Gesinde,

Zu verbrennen seine Stube.


Schuf sich Männer schwertumgürtet,

Helden, deren Hand bewaffnet,

Knaben mit dem Speer am Gürtel,

Auf der Schulter Äxte tragend;

Zog dann zu dem großen Streite

Gegen seinen eignen Bruder.


Dessen schöne Schwiegertochter

Saß grad in des Fensters Nähe,

Blickt nach außen aus dem Fenster,

Redet Worte solcher Weise:

Seh' ich dichten Rauch dort steigen[91]

Oder eine dunkle Wolke

An dem Saume jenes Feldes,

An dem Rand des neuen Ganges?


Keineswegs war es ein Nebel,

Dichter Rauch war es durchaus nicht,

Waren Untamoinens Helden,

Zogen dorten zu dem Streite.


Kamen Untamoinens Helden,

Sie, die Männer schwertumgürtet,

Brachten um Kalerwos Scharen,

Töteten die große Sippe,

Brannten seinen Hof zu Asche,

Machten gleich ihn ebnen Fluren.


Blieb allein das Weib Kalerwos

Mit der Frucht in ihrem Leibe,

Nahmen sie Untamos Helden

Mit sich nach den Heimathöfen,

Daß die Stube sie dort kehre,

Rein den Boden dorten fege.


Wenig Zeit war hingegangen,

Ward ein kleiner Knab' geboren

Von der unglücksel'gen Mutter;

Wie wohl sollte man ihn nennen?

Kullerwo nannt' ihn die Mutter,

Kampfesgut nannt' ihn Untamo.


Ward der kleine Knab' geleget,

Ward das Kind, das vaterlose,

In die Wiege nun gebettet,

Daß es dort geschaukelt werde.


Schaukelt sich dort in der Wiege,

Schaukelt, daß die Haare flattern,

Einen Tag und auch den zweiten,[92]

Aber schon am dritten Tage

Schlägt der Knabe mit den Füßen,

Schlägt nach vorne, schlägt nach hinten,

Sprengt mit Macht die Wickelbänder,

Kriecht heraus auf seine Decke,

Schlägt die Lindenwieg' in Stücke

Und zerreißet alle Windeln.


Schien als wollt' er gut gedeihen,

Als wollt' tauglich er geraten;

Untamola hofft gewißlich,

Daß er einstmals, groß gewachsen,

Mannhaft und verständig werde,

Heldenmüt'gen Sinn erwerbe,

Als ein Knecht von hundertfachem,

Tausendfachem Wert sich weise.


Wuchs nun zwei und drei der Monde,

Aber schon im dritten Monde

Als ein Knab' von Knieeshöhe

Fing er also an zu sinnen:

Wenn ich größer bin geworden,

Wenn mein Körper Kraft bekommen,

Will ich meines Vaters Wunden,

Meiner Mutter Tränen rächen.


Untamoinen hört die Worte,

Redet selbst auf diese Weise:

Meinem Haus bringt er Verderben,

In ihm wächst Kalerwo wieder.


Überlegten nun die Männer

Und die Weiber alle rieten,

Wo den Knaben hin man stecken,

Wie zum Tod ihn schaffen könnte.[93]


Ward gesetzet in ein Fäßlein,

In ein Tönnlein eingesperret,

Zu dem Wasser so geführet,

Also in die Flut versenket.


Darauf ging man nachzuschauen

Nach Verlauf von zweien Nächten,

Ob im Wasser er ertrunken,

Ob im Faß er umgekommen.


War im Wasser nicht ertrunken,

Nicht im Fasse umgekommen,

Aus dem Faß war er gekrochen,

Saß nun auf der Wogen Rücken,

In der Hand ein Kupferstöcklein,

An der Spitz' ein Seidenschnürchen,

Angelte des Meeres Fische,

Maß des Meeres Wassermenge:

Wasser ist im Meer hinlänglich,

Daß es zwei der Löffel füllet,

Würde es genau gemessen,

Käm' ein wenig auf den dritten.


Untamoinen überlegte:

Wohin soll ich mit dem Knaben,

Wie Vernichtung ihm bereiten,

Welchem Tod ihn überliefern?


Er befahl dem Knecht zu sammeln

Hartes Holz von trocknen Birken,

Fichten mit vielhundert Zweigen,

Bäume, die mit Harz gefüllet,

Um den Knaben zu verbrennen,

Kullerwo zugrund zu richten.


Aufgestapelt und gesammelt

Wurde trocknes Holz der Birke,[94]

Fichten mit vielhundert Zweigen,

Bäume, die mit Harz gefüllet,

Tausend Schlitten voll mit Rinde,

Hundert Klafter dürrer Eschen;

Feuer ward aufs Holz geworfen,

Prasselnd brannt' der Scheiterhaufen,

Dorthin ward der Knab' geschleudert,

Mitten in die Glut des Feuers.


Brannte einen Tag, den zweiten,

Brannte noch am dritten Tage,

Hin ging man um nachzuschauen:

Bis zum Knie saß er in Asche,

In den Funken bis zum Arme,

In der Hand den Kohlenhaken,

Um das Feuer anzuschüren,

Um die Kohlen dicht zu scharren;

Nicht ein Härchen war versenget,

Nicht verletzet eine Locke.


Untamo ward gar verdrießlich:

Wohin soll ich mit dem Knaben,

Wie Vernichtung ihm bereiten,

Ihn dem Tode überliefern?

Läßt an einen Baum ihn hängen,

Ihn an eine Eiche knüpfen.


Drei der Nächte schon vergingen,

Ebensoviel auch der Tage,

Untamoinen überlegte:

Zeit ist's nun um nachzusehen,

Ob Kullerwo schon verkommen,

An dem Galgen schon gestorben.


Sandte seinen Knecht zu schauen,

Dieses bracht' der Knecht als Antwort:

Nicht verkommen ist Kullerwo,[95]

Nicht am Galgen er gestorben,

Ritzet Bilder in die Rinde

Mit dem Stift in seinen Händen,

Voll von Bildern ist der Baum schon,

Voller Schnitzwerk ist die Eiche,

Männer sind dort und auch Schwerter,

Speere an der Männer Seite.


Was soll Untamo beginnen

Mit dem unglücksel'gen Knaben;

Welchen Tod er auch bereitet,

Welch Verderben er auch aussinnt,

Nicht fällt in des Todes Rachen,

Nimmermehr verkommt der Knabe.


Mußte endlich doch ermüden

In der Lust ihn zu verderben,

Mußte Kullerwo erziehen,

Ihn, den Knecht, gleich seinem Kinde.


Untamoinen sprach die Worte,

Redet selbst auf diese Weise:

Wirst du schicklich dich betragen,

Stets wie sich's gebühret leben,

Sollst in diesem Haus du bleiben,

Sollst du Knechtes Dienste leisten,

Sollst du Lohn dafür erhalten,

Nach Verdienst du ihn bekommen,

Um den Leib ein schönes Gurtband,

Oder Streiche an die Ohren.


Als Kullerwo nun gewachsen,

Eine Spanne hoch geworden,

Schickte er ihn an die Arbeit,

Hieß er an das Werk ihn gehen,

Hieß ein kleines Kind ihn warten,

Ihn ein Daumenlanges wiegen:[96]

Pflege dieses Kind mit Sorgfalt,

Gib ihm Essen, iß auch selber,

Spül' die Linnen in dem Flusse,

Wasch des Kindes kleine Kleider!


Wartet's einen Tag, den zweiten,

Bricht die Arme ihm, die Augen

Sticht er aus, am dritten Tage

Läßt er vollends es verderben,

Wirft die Linnen in das Wasser

Und die Wiege in das Feuer.


Untamoinen überlegte:

Nimmer wird er dazu taugen,

Kleine Kinder gut zu warten,

Daumenlange gut zu wiegen;

Weiß nicht, wozu ihn gebrauchen

Und zu welchem Werk verwenden;

Soll er mir die Waldung fällen?

Hieß ihn nun die Waldung fällen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Redet Worte solcher Weise:

Dann erst will ein Mann ich heißen,

Wenn ein Beil die Hände halten,

Bin dann besser anzuschauen,

Schöner als ich sonst gewesen,

Dünke mich gleich fünf der Männer,

Sechs der Helden gleich an Werte.


Ging zum Schmiede in die Esse,

Redet Worte solcher Weise:

Höre, Schmied, mein lieber Bruder,

Schmiede mir ein gutes Beilchen,

Eine Axt, dem Mann gewachsen,

Arbeitstauglich mir ein Eisen![97]

Gehe nun die Waldung fällen,

Will nun starke Birken hauen.


Das Gebotne tut der Schmieder,

Schmiedet ihm die Axt geschwinde;

Nach dem Mann gerät die Axt wohl,

Arbeitstauglich ihm das Eisen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Schleift nun seine Axt aus Eisen,

Schleift das Beil wohl einen Tag lang,

Fertigt einen Schaft am Abend.


Macht sich auf den Weg zu schwenden,

Zu dem hochgelegnen Waldmoor,

Zu dem besten Zimmerholze,

Zu den stärksten Balkenstämmen.


Fällt mit seinem Beil die Bäume,

Haut sie mit der ebnen Schneide;

Haut mit einem Hieb die guten,

Schlechtere mit einem halben.


Hastig fällt er fünf der Bäume,

Acht der Stämme mit der Wurzel,

Redet darauf diese Worte,

Läßt sich selber also hören:

Lempo mag solch Werk verrichten,

Hiisi mag hier Balken fällen!


Schwingt sich dann auf einen Baumstumpf,

Ruft drauf mit gar heller Stimme,

Läßt sein Pfeifen laut erschallen,

Redet Worte solcher Weise:

So weit mag der Wald nun stürzen,

Mögen schlanke Birken fallen,

Als man meine Stimme höret

Und ich meine Lieder pfeife![98]


Mög' kein Schößling sich erheben,

Aufrecht mög' kein Hälmchen stehen,

Nicht solang die Zeiten währen

Und das goldne Mondlicht glänzet,

Wo Kalerwos Sohn geschwendet,

Auf des guten Mannes Neuland!


Sollt' die Erde Saat empfangen

Und die Keime sich erheben,

Sollten Halme dort erstehen,

Stengel sich empor gestalten,

Mögen niemals Ähren reifen,

Nie sie sich mit Korne füllen.


Untamoinen der Behende

Ging darauf um nachzuschauen,

Wie Kalerwos Sohn geschwendet,

Wie der neue Knecht gehauen:

Nimmer eine Schwende schien es,

Nimmer eines Jünglings Arbeit.


Untamoinen überlegte:

Nicht zu diesem tauglich ist er:

Ganz verdirbt er gute Balken,

Fällt vom Zimmerholz das beste;

Weiß nicht, wozu ihn gebrauchen

Und zu welchem Werk verwenden;

Soll er einen Zaun mir ziehen?

Hieß ihn einen Zaun nun ziehen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Fing nun an den Zaun zu ziehen,

Großgewalt'ge Fichtenstämme

Steckte er als Zaunstaketen,

Ungeteilte hohe Tannen

Pflanzte er als kleine Pfähle,

Band sodann sie fest zusammen[99]

Mit den längsten Ebereschen,

Macht den Zaun ganz ohne Lücke,

Läßt in ihm gar keine Pforte,

Redet Worte solcher Weise,

Läßt sich selber also hören:

Wer als Vogel sich nicht hebet,

Nicht mit zwei der Flügel flattert,

Möge nicht herüber kommen

Über diesen Zaun Kullerwos.


Her des Wegs kommt Untamoinen,

Tritt heran um zu betrachten

Des Kalerwosohns Umzäunung,

Seines Knechtes aus dem Kriege.


Sieht den Zaun ganz ohne Lücke,

Ohne Spalten, ohne Löcher,

Von der Erde aufgeführet,

Bis zu dem Gewölk erhoben.


Redet Worte solcher Weise:

Nicht zu diesem ist er tauglich:

Hat den Zaun ganz ohne Lücke,

Ohne Pforte ihn gezogen,

Hat zum Himmel ihn erhoben,

Ihn geführt bis zu den Wolken,

Nicht kann ich hinüberkommen,

Kann durch keine Öffnung dringen;

Weiß nicht, wozu ihn gebrauchen

Und zu welchem Werk verwenden;

Soll er Roggen für mich dreschen?

Hieß ihn Roggen für sich dreschen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Fing nun an das Korn zu dreschen:[100]

Drosch das Korn zu feinem Staube

Und zu eitler Spreu die Halme.

Kam der Wirt nun angeschritten,

Kam um selber nachzuschauen,

Wie Kalerwos Sohn gedroschen,

Wie geklopft hat Kullerwoinen:

Lag als feiner Staub der Roggen

Und als Spreu die Halme dorten.


Untamo geriet in Zorn nun:

Ist als Arbeitsmann nicht tauglich,

Welches Werk er auch verrichtet,

Töricht wird das Werk verdorben;

Soll ich ihn nach Rußland führen,

Ihn nach Karjala verkaufen,

An den Schmieder Ilmarinen,

Daß er dort den Hammer schwinge?


Er verkauft den Sohn Kalerwos

Und verhandelt nach Karjala

Ihn dem Schmieder Ilmarinen,

Dem erfahrnen Hammermeister.


Wieviel gab der Schmied als Zahlung?

Gab gar viel der Schmied als Zahlung:

Gab für ihn zwei alte Kessel,

Gab drei halbe Eisenhaken,

Fünf schon abgenutzte Sensen,

Sechs ganz unbrauchbare Karste

Für den untauglichen Burschen,

Für den Knecht, der ohne Nutzen.

Quelle:
Kalewala. 2 Bände, Berlin [o.J.], Band 2, S. 89-101.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Libretto zu der Oper von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon