Vierte Rune.

[42] Aino, dieses junge Mädchen,

Joukahainens schöne Schwester,

Ging nun in den Busch nach Besen,

Ging, um Quaste dort zu holen;

Brach dort einen für den Vater,

Einen brach sie für die Mutter,

Bindet dann den dritten Besen

Für den jüngsten ihrer Brüder.


Schon macht sie sich auf nach Hause,

Flattert aus dem Erlenwäldchen,

Kommt des Weges Wäinämöinen

Und erblickt im Busch die Jungfrau,

Auf dem Gras die schöngeschürzte,

Redet Worte solcher Weise:

Nicht für andre trag, o Jungfrau,

Nein für mich nur trag, o Jungfrau,

An dem Halse Perlenschnüre,

Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,

Wind' für mich die feine Flechte,

Schmück' für mich das Haar mit Seide.


Ihm zur Antwort gab die Jungfrau:

Nicht für dich und nicht für andre

Hängt mir auf der Brust das Kreuzchen,

Schmücke ich mein Haupt mit Seide;[43]

Brauch' nicht schiffgebrachte Kleider,

Sehn' mich nicht nach Weizenbroten,

Geh' in knappem Hausgewande,

Nähre mich von grober Kruste,

Bleib' bei meinem lieben Vater,

In der Nähe meiner Mutter.


Riß drauf von der Brust das Kreuzchen,

Von den Fingern fort die Ringe,

Fort vom Halse dann die Perlen,

Von dem Haupt die roten Schnüre,

Warf es alles auf den Boden,

Warf behend es in das Buschwerk,

Ging dann weinend ihrer Wege

Und mit Heulen fort nach Hause.


An dem Fenster saß der Vater,

Schnitzte dort am schönen Beilschaft:

Weshalb weinst du, arme Tochter,

Arme Tochter, junges Mädchen?


Hab' wohl Grund zum Weinen, Vater,

Grund zum Kummer und zur Klage;

Deshalb wein' ich, lieber Vater,

Deshalb weine ich und klage:

Von der Brust fiel mir das Kreuzchen,

Meinem Gurt entglitt die Spange,

Ganz von Silber war das Kreuzchen,

Und die Spange war von Kupfer.


An der Pforte saß der Bruder,

Schnitzte dort am schönen Krummholz:

Weshalb weinst du, arme Schwester,

Arme Schwester, junges Mädchen?


Hab' wohl Grund zum Weinen, Bruder,

Grund zum Kummer und zur Klage;[44]

Deshalb wein' ich, lieber Bruder,

Deshalb weine ich und klage:

Von dem Finger fiel der Ring mir,

Von dem Hals die Perlenschnüre,

Golden war der Ring am Finger,

Silbern an dem Hals die Perlen.


An der Schwelle saß die Schwester,

Webte dort am goldnen Gürtel:

Weshalb weinst du, arme Schwester,

Arme Schwester, junges Mädchen?


Hab' wohl Grund zum Weinen, Schwester,

Grund zum Kummer und zur Klage;

Deshalb wein' ich, liebe Schwester,

Deshalb weine ich und klage:

Von den Schläfen fiel das Gold mir,

Aus den Haaren mir das Silber,

Von dem Aug' die blaue Seide,

Von dem Kopf die roten Schnüre.


An der Tür des Vorratshauses

Sammelte die Mutter Sahne:

Weshalb weinst du, arme Tochter,

Arme Tochter, junges Mädchen?

Mutter, die du mich getragen,

Mutter, die du mich gesäuget,

Hab' wohl Grund, mich sehr zu grämen,

Bitterlich mich zu betrüben;

Deshalb wein' ich, arme Mutter,

Dies ist, Mütterlein, mein Kummer:

Ging hin in den Busch nach Besen,

Ging, um Quaste dort zu brechen,

Brach dort einen für den Vater,

Brach den zweiten für die Mutter,

Band darauf den dritten Besen[45]

Für den jüngsten meiner Brüder,

Fing dann an nach Haus' zu gehen,

Eilte heimwärts durch die Heide,

Aus dem Tal sprach da Osmoinen,

Kalewainen von der Schwende:

Nicht für andre trag, o Mädchen,

Nein für mich nur trag, o Mädchen,

An dem Halse Perlenschnüre,

Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,

Wind' für mich die feine Flechte,

Schmück' für mich das Haar mit Seide.

Riß drauf von der Brust das Kreuzchen,

Von dem Halse fort die Perlen,

Von dem Aug' die blaue Seide,

Von dem Kopf die roten Schnüre,

Warf es alles auf die Erde,

Warf behend es in das Buschwerk,

Sprach dann selber diese Worte:

Nicht für dich und nicht für andre

Hängt mir auf der Brust das Kreuzchen,

Schmücke ich mein Haupt mit Seide;

Brauch' nicht schiffgebrachte Kleider,

Sehn' mich nicht nach Weizenbroten,

Geh' in knappem Hausgewande,

Nähre mich von grober Kruste,

Bleib' bei meinem lieben Vater,

In der Nähe meiner Mutter.


Sprach die Mutter zu der Tochter,

So die Alte zu der Jungen:

Weine nicht mehr, teure Tochter,

Murre nicht, mein liebes Mädchen!

Iß ein Jahr lang gute Butter,

Wirst da lieblich runder werden,[46]

Iß das zweite Jahr nur Schweinfleisch,

Wirst gar stattlich da gedeihen,

Und im dritten Sahnenkuchen,

Wirst die Schönste da von allen;

Geh zum Vorratshaus am Berge,

Öffnet dort die beste Kammer,

Kisten stehen dort auf Kisten,

Kasten stehen dort auf Kasten,

Öffne dort die beste Kiste,

Hebe ab den bunten Deckel,

Findest goldner Gürtel sechse,

Findest sieben blaue Röcke,

Die des Mondes Tochter webte,

Die der Sonne Tochter nähte.


Ging in meinen jungen Jahren,

In den Tagen meiner Jugend

In den Busch und suchte Beeren,

Suchte Himbeern an dem Berge,

Hört' des Mondes Tochter weben

Und der Sonne Tochter spinnen,

An dem Rand des blauen Haines,

An dem Saum des holden Laubwalds.


Nahe trat an sie heran ich,

Stellte mich zu ihrer Seite

Und begann sie sanft zu bitten,

Sprach dann selber diese Worte:

Gib dein Gold, o Mondes Tochter,

Gib dein Silber, Sonnentochter,

Diesem Mädchen ohne Habe,

Diesem Kinde, das dich bittet.


Gold gab mir des Mondes Tochter,

Silber mir die Sonnentochter,

Gaben Gold mir an die Schläfen,[47]

Auf das Haupt mir schimmernd Silber,

Kam als Blume dann nach Hause,

Freudig nach des Vaters Höfen.


Trug es einen Tag, den zweiten,

Aber schon am dritten Tage

Nahm das Gold ich von den Schläfen

Und das Silber mir vom Haupte,

Bracht' es hin zum Haus' am Berge,

Tat es sorgsam in die Kiste;

Hat bis heute dort gelegen,

Hab' es nie mehr angesehen.


Winde Seide um die Augen,

Bausche Gold um deine Schläfen,

Um den Hals schling helle Perlen,

Mit dem Goldkreuz zier' den Brustlatz,

Leg' dir an ein Hemd von Leinwand,

Aus dem allerfeinsten Flachse,

Zieh dir an den schmucken Tuchrock,

Schnüre ihn mit seidnem Gürtel,

Kleide dich mit seidnen Strümpfen,

Mit den Schuhn von schönem Leder,

Winde dir ums Haupt die Flechte,

Binde sie mit seidnen Bändern,

Schmück' mit Ringen deine Finger

Und den Arm mit goldner Spange.


Kommst drauf also in die Stube,

Schreitest also aus dem Hause,

Wohl zur Freude der Verwandten,

Zu des ganzen Hauses Zierde,

Wandelst dann wie eine Blume,

Wie die Himbeer' an dem Wege,

Stattlich bist du mehr denn früher,

Schöner als zu andern Zeiten.[48]


Also sprach sie zu der Tochter,

So die Mutter zu dem Mädchen;

Doch nicht achtet' ihrer Aino,

Hörte nicht der Mutter Rede,

Auf den Hof ging sie zu weinen,

Wandelte in schwerem Sinnen,

Sprach da Worte solcher Weise,

Ließ sich also dort vernehmen:

Wie wohl ist der Sinn der Sel'gen,

Wie der glückbegabten Seele?

Also ist der Sinn der Sel'gen,

So der glückbegabten Seele,

Wie das Wasser, das da flutet,

Wie die Welle in dem Troge.

Wie der Sinn der Unglücksel'gen,

Wie der Sinn der grauen Ente?

Also ist der Armen Stimmung,

So der Sinn der grauen Ente,

Wie der Schnee in Daches Schatten,

Wie das Wasser in dem Brunnen.


Oft schweift nun der Sinn der Schwachen,

Oft der Sinn des schwachen Mädchens

Angstvoll durch die Stoppelfelder,

Streichet mählich durch die Sträucher,

Wälzt sich weiter durch die Wiesen,

Drängt sich durch die dichten Büsche,

Schwarz wie Teer ist er beschaffen,

Weißer nicht das Herz als Kohlen.


Besser wär es mir gewesen,

Glücklicher wär's mir ergangen,

Wäre nimmer ich geboren,

Wär' ich nicht herangewachsen

Bis zu diesen bösen Tagen,[49]

Zu dem freudenleeren Zeitraum;

Wär' ich doch nach sechs der Nächte,

In der achten schon gestorben,

Hätte da nicht viel benötigt,

Brauchte nur ein wenig Linnen,

Nur ein kleines Fleckchen Erde,

Etwas Tränen von der Mutter,

Weniger noch von dem Vater,

Von dem Bruder nur ein bißchen.


Weinte einen Tag, den zweiten,

Wieder fragte da die Mutter:

Weshalb weinst du, liebes Mädchen,

Weshalb härmst du dich, du Arme?


Deshalb wein' ich armes Mädchen,

Härm' ich mich mein ganzes Leben,

Daß du mich hast hingegeben,

Mich, dein eigen Kind, versprochen,

Ihm, dem alten Mann, zum Troste,

Ihm zu seines Alters Freude,

Ihm, dem Schwankenden, zur Stütze,

Und zum Schutz dem Winkelhocker;

Hätt'st mich lieber du versprochen

Unten in des Meeres Tiefe,

Schwester dort zu sein den Schnäpeln,

Freundin dort den flinken Fischen;

Besser ist's, im Meer zu schwimmen,

In den Wogen dort zu weilen,

Schwester dort zu sein den Schnäpeln,

Freundin dort den flinken Fischen,

Als den alten Mann zu trösten,

Ihn, den Schwankenden, zu stützen,

Der in seinen Strümpfen strauchelt,

Übers Zweiglein stürzt am Wege.[50]


Geht drauf zu dem Haus am Berge,

Schreitet in die Vorratskammer,

Öffnet dort die schöne Kiste,

Hebet ab den bunten Deckel,

Findet goldner Gürtel sechse,

Findet sieben blaue Röcke,

Kleidet damit ihren Körper,

Schmückt sich mit dem allerschönsten,

Legt das Gold an ihre Schläfen,

Auf das Haar das helle Silber,

Blaue Seide um die Augen,

Rote Schnüre an die Stirne.


Fängt dann an davonzuschreiten

Über Feld und über Heide,

Schweift durch Sümpfe, schweift durch Wiesen,

Schweift durch schattenreiche Wälder,

Selber sang sie bei dem Gehen,

Sprach sie, als umher sie schweifte:

Ach, von Jammer schwillt das Herz mir,

Eine Last trag' ich im Haupte;

Möge noch der Jammer wachsen,

Mög' die Last noch schwerer werden,

Daß ich armes Mädchen sterbe,

Daß ich Elende vergehe

An der großen Wucht des Kummers,

An des Grames bittern Nöten.


Meine Zeit ist schon gekommen,

Fort von dieser Welt zu eilen,

Unten hin zum Reiche Manas,

In des Totenreiches Räume;

Nicht beweinte mich der Vater,

Nicht betrübte sich die Mutter,

Nicht würd' feucht der Schwester Wange,[51]

Trocken blieb des Bruders Auge,

Wenn ich in das Wasser stürzte,

In der Fische Flut versänke,

In die Meereswogentiefe,

Zu dem schwarzgefärbten Schlamme.


Schreitet einen Tag, den zweiten,

Endlich an dem dritten Tage

Kam sie an die Meeresküste,

An das schilfbewachsne Ufer,

Langte an zur Dämmerstunde,

Und sie machte Halt im Dunkel.


Dort verweinte sie den Abend,

Klagte sie die ganze Nacht durch,

Auf des Strandes Wassersteinen,

An des breiten Busens Kante;

In der ersten Morgenfrühe

Blickte sie zum Vorgebirge,

An dem Vorgebirg drei Jungfraun

Sah sie in den Wellen baden,

Aino macht sich rasch zur vierten,

Schließt sich an, die schlanke Gerte.


Wirft das Hemd hin auf die Weide,

Auf die Espen ihre Kleidung,

Auf die Erde ihre Strümpfe,

Auf die Steine ihre Schuhe,

Auf den Ufersand die Perlen,

Auf das Strandgeröll die Ringe.


Ragt ein Stein dort voller Streifen,

Aus dem Meere goldenglänzend,

Auf den Stein zu schwimmt die Jungfrau

Und bewegt sich hin zum Felsblock;

Als sie nun dahin gelangt ist

Und zum Sitzen sich bereitet[52]

Auf dem buntgestreiften Steine,

Auf dem glänzendglatten Felsblock,

Stürzt der Stein rasch in die Tiefe,

Fällt der Felsblock hin zum Grunde,

Mit dem Stein zugleich das Mädchen,

Aino auf des Felsblocks Fläche.


Also sank ins Meer das Hühnchen,

So verschwand das arme Mädchen,

Sprach noch selber beim Verscheiden,

Selber, als hinab sie rollte:

Ging zum Meere, um zu baden,

Ging zum Wasser, um zu schwimmen,

Fiel hinein, ich armes Hühnchen,

Starb alsbald, ein armes Vöglein;

Nimmer fange du, mein Vater,

Nimmer während deines Lebens

Fische aus des Meeres Fluten,

Nie aus dieser Wasserstrecke.


Ging zum Strande, mich zu waschen,

Ging zum Meere, um zu baden,

Fiel hinein, ich armes Hühnchen,

Starb alsbald, ein armes Vöglein;

Nimmer magst du, meine Mutter,

Nimmer während deines Lebens

Wasser in den Brotteig gießen

Aus der breiten Bucht am Hause.


Ging zum Strande, mich zu waschen,

Ging zum Meere, um zu baden,

Fiel hinein, ich armes Hühnchen,

Starb alsbald, ein armes Vöglein;

Nimmer magst du, lieber Bruder,

Nimmer während deines Lebens,[53]

Hier dein muntres Streitroß tränken,

Nie am Strande dieses Meeres!


Ging zum Strande, mich zu waschen,

Ging zum Meere, um zu baden,

Fiel hinein, ich armes Hühnchen,

Starb alsbald, ein armes Vöglein;

Nimmer magst du, liebe Schwester,

Künftig während deines Lebens,

Nimmer deine Augen waschen

Mit dem Wasser dieser Fluten!

Alles Wasser aus dem Meere

Ist ja Blut aus meinen Adern,

Alle Fische in dem Meere

Sind ja Fleisch von meinem Körper,

Alle Sträucher an dem Strande

Sind ja meine Seitenknochen,

Alle Gräser an dem Ufer

Sind ja Haare meines Hauptes.


Also starb das junge Mädchen,

So verschwand das schöne Hühnchen.


Wer wohl wird die Nachricht melden,

Wer die Botschaft wohl berichten

Nach dem stolzen Haus der Jungfrau,

Nach dem Heimatshof der Schönen?


Wird der Bär die Nachricht melden,

Er die Botschaft hinberichten?

Nicht vermeldet er die Nachricht,

Stürzt sich auf die Rinderherde.


Wer wohl wird die Nachricht melden,

Wer die Botschaft wohl berichten

Nach dem stolzen Haus der Jungfrau,

Nach dem Heimatshof der Schönen?[54]


Wird der Wolf die Nachricht melden,

Er die Botschaft hinberichten?

Nicht vermeldet er die Nachricht,

Stürzt sich auf die Lämmerherde.


Wer wohl wird die Nachricht melden,

Wer die Botschaft wohl berichten

Nach dem stolzen Haus der Jungfrau,

Nach dem Heimatshof der Schönen?


Wird der Fuchs die Nachricht melden,

Er die Botschaft hinberichten?

Nicht vermeldet er die Nachricht,

Stürzt sich auf die Gänseherde.


Wer wohl wird die Nachricht melden,

Wer die Botschaft wohl berichten

Nach dem stolzen Haus der Jungfrau,

Nach dem Heimatshof der Schönen?


Wird der Has' die Nachricht melden,

Er die Botschaft hinberichten?

Der gelobte es gar treulich:

Nicht vertun will ich die Rede.

Hastig lief sodann der Hase,

Eilend hüpfte fort das Langohr,

Gar behende rannt' das Krummbein,

Jagt' geschwind mit schiefem Maule

Nach dem stolzen Haus der Jungfrau,

Nach dem Heimatshof der Schönen.


Lief behende hin zur Badstub',

Hockte an der Schwelle nieder,

Voll von Mädchen ist die Badstub',

Haben Besen in den Händen:

Wirst, o Schielaug, bald gesotten,

Bald, o Breitaug, du gebraten[55]

Als des Wirtes Abendessen,

Als der Wirtin Morgenbissen,

Als der Tochter Zwischenspeise,

Als des Sohnes Mittagsnahrung.


Doch der Hase gab zur Antwort,

Laut verkündet es das Großaug:

Möge Lempo hierher kommen,

Um im Kessel hier zu kochen!

Bin gekommen zu berichten

Und zu melden euch die Botschaft:

Hingeschwunden ist die Schöne

Mit dem Zinnschmuck' auf dem Brustlatz,

Mit der schönen Silberspange,

Mit dem kupferreichen Gürtel,

In die Wellen hingesunken,

In des Meeres weite Tiefen,

Schwester dort zu sein den Schnäpeln,

Freundin dort den flinken Fischen.


Weinen mußte da die Mutter,

Viele Tränen fließen lassen,

Hob dann selber an zu sprechen,

Sprach mit Schmerzen diese Worte:

Arme Mütter, treibet nimmer,

Nimmer während eures Lebens

Eure Töchter an zur Ehe,

Treibt sie nimmer an zur Heirat

Mit dem ungeliebten Freier,

So wie ich, die arme Mutter,

Angetrieben hab' die Tochter,

Dieses heißgeliebte Hühnchen!


Weinte, daß die Tränen tropften,

Bittrer Tränen viele rannen[56]

Aus den alten, blauen Augen

Auf die armen, alten Wangen.


Eine Träne floß, die zweite,

Bittrer Tränen viele rannen

Von den armen, alten Wangen

Auf die starkbewegten Brüste.


Eine Träne floß, die zweite,

Bittrer Tränen viele rannen

Von den starkbewegten Brüsten

Auf den feinen Saum des Kleides.


Eine Träne floß, die zweite,

Bittrer Tränen viele rannen

Von dem feinen Saum des Kleides

Auf die rotgestreiften Strümpfe.


Eine Träne floß, die zweite,

Bittrer Tränen viele rannen

Von den rotgestreiften Strümpfen

Auf die goldgestickten Schuhe.


Eine Träne floß, die zweite,

Bittre Tränen rannen reichlich

Von den goldgestickten Schuhen

Unter ihre beiden Füße,

Auf die Erde, ihr zu Frommen,

In das Wasser, ihm zu Frommen.


Als sie auf den Boden kamen,

Bildeten sie breite Bäche,

Flossen als drei große Flüsse

Aus dem reichen Tränenwasser,

Das vom Haupt herabgekommen,

Von den Schläfen abgeflossen.[57]


Drei in jedem dieser Bäche

Brausen reißend Wasserfälle,

In dem Schaum des Wasserfalles

Stehen drei vereinte Felsen,

An dem Rande jedes Felsens

Hebet sich ein goldner Hügel,

Auf der Spitze jedes Hügels

Wachsen auf drei schöne Birken,

In dem Wipfel jeder Birke

Sitzt ein goldnes Kuckucks-Kleeblatt.


Fangen alle an zu rufen,

Einer rufet: Liebe, Liebe,

Dann der andre: Freier, Freier,

Und der dritte: Freude, Freude.


Welcher Liebe, Liebe rufet,

Rufet also drei der Monde

Jener Jungfrau ohne Liebe,

Die nun in den Wogen ruhte.


Welcher Freier, Freier rufet,

Rufet also sechs der Monde

Jenem Freier, der für immer

Ohn' Erhörung bleiben sollte.


Welcher Freude, Freude rufet,

Rufet so das ganze Leben

Jener Mutter ohne Freude,

Die nun alle Tage weinte.


Also sprach die arme Mutter,

Wenn des Kuckucks Ruf sie hörte:

Höre nicht, o arme Mutter,

Lange auf des Kuckucks Rufen;

Wenn des Kuckucks Ruf ertönet,

Wird das Herz mir hart beweget,[58]

Tränen treten in die Augen,

Wasser rollt mir auf die Wangen,

Tropfen wie die Erbsenkörner,

Breiter als die dicksten Bohnen,

Älter wird mein Ellenbogen,

Schwächer mir die Handgelenke,

Ja, der ganze Körper wankt mir,

Wenn des Kuckucks Ruf ich höre!

Quelle:
Kalewala. 2 Bände, Berlin [o.J.], Band 1, S. 42-59.
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