XXI

[241] Welchen Wandlungen die Volksstimmung unterliege, das zeigte sich auch in Zwischenbühel gegenüber den Geschehnissen auf dem Sternsteinhofe.

Ein grober Verstoß gegen landläufige sittliche Grundsätze und Anschauungen erweckt vorerst laute Entrüstung gegen beide Schuldige, aber bald führt das Zusammenlebenmüssen zu Bedachtnahmen und Nachgiebigkeiten gegen den einen wehrhafteren Teil und zum Unrechte gegen den wehrlosen, auf dem allein die üble Nachrede haftenbleibt, bis die Leute, Schimpfens und Anteilnehmens müde, gleichgültiger werden und mählich zu vergessen anfangen; einmal noch – mag nun neue Unbill hinzukommen oder nicht – lodert wohl das Zornfeuer wieder empor, dann aber schickt man sich darein, von dem allgemein Gültigen abzusehen, den Fall an sich als Ausnahme zu betrachten, was man ja ohne Gefahr tun kann, da er nur die Regel zu bestätigen vermag, und um so nachsichtiger fällt das Endurteil aus, als schroffer und unverrückbarer[241] die anfänglich allen Unwillen erregende Tatsache bestehenbleibt. Da aber weder das eingewohnte Denken noch das ursprüngliche, widerwillige Gefühl über die Konflikte hinweghelfen, so formuliert sich die Anklage, wenn der Fall ein erschütternder, an die letzte Adresse, an das Schicksal, streben aber die Dinge wieder mit dem Alltäglichen sich ins Gleichgewicht zu setzen, so sucht die Menge mit aller Spitzfindigkeit nach dem, dessen Anstoß den ärgerlichen Verlauf verursachte, und findet diesen neuen, endgültig Schuldigen oft in einer Person, die anfänglich, wie gefeit, ganz beiseite gestanden hatte.

Als man im Orte merkte, daß der junge Sternsteinhofer just nicht des Votivbildes halber so häufig nach des Holzschnitzers Hütte gelaufen war, da schlug die Stimmung gegen den »frommen, sorghaften« Bauern gewaltig um, und auch an Helenen ließ man kein gutes Haar, und »ganz aus der Weis unschambar« fand man es, wie er die Wittib zu sich auf den Hof nehmen und die dahin gehen mochte! Die Sternsteinhofbäuerin wurde für eine »helle Marterin« erklärt. Aber der Bauer konnte doch einen und den andern, die sich zu vorlaut gaben, »sakrisch klemmen« – und im Grunde, er hatte ein krankes Weib – wohl – wohl – doch die Kleebinderin, als recht und schlecht verheirat, hätt ihn gleich beim ersten Anwurf ausjagen sollen, und hätt sie dazu auch 's längste Scheit unterm Herd hervorlangen müssen! Freilich, viel geht in der Welt vor, und allerwärts hört man, wie oft ein Weib rechtschaffen ausholt und Dreinschlagen vergißt. Anders wieder, als man die Bäuerin zu Grabe trug, da legten sich die Leute gar keinen Zwang auf, und dem weithinwallenden Zuge entlang summte es wie ein Immenschwarm, und zwar nicht ins Gesicht, aber zu Gehör sprach man den zweien, »die zwei andere so gut wie umgebracht hätten«. Doch die Sternsteinhoferin war nun einmal tot und lag in der kühlen Erde, und das war für sie schier das beste, wie für die andern; vermochten die nicht voneinander zu lassen, so war es gleich einer Schickung und Gnad Gottes, daß sie[242] nun in Ehren zusammen und zu einem End kommen konnten, und hätt man sie seinzeit gewähren lassen, wär das ganz Ärgernis und andern zwei beiden alles gebrannte Herzleid erspart geblieben. Ja, ja, an dem, wie's kommen und gangen, war eigentlich doch nur schuld – der alte Sternsteinhofer!

Auf solche Weise fand sich der meisten Denken und Meinen mit dem, was geschehen war und nun geschehen würde, zurecht, nur wenige hielten an ihrer anfänglichen, strengen Verurteilung fest, darunter auch der Kaplan Sederl, und nur einer erklärte von allem Anfange an, er löffle nichts so heiß aus, als es aufgetragen werde, der alte Pfarrer. Freilich, auch der, wenn er an die »unsaubere Geschichte« dachte – daß die auch just in seinem Sprengel spielen mußte! –, rückte sein Samtkäppchen bedenklich schief, indem er sich ärgerlich im Haar kraute, und über seine Stirn legten sich unmutsvolle Falten; aber den Schuldigen den Prozeß zu machen, überließ er den Leuten, und das Urteil stellte er dem anheim, des Augen, die nie ein Schlaf schloß, mehr sehen, als aller Leute Augen zu sehen vermochten! Er hatte ein feines Gefühl für des Volkes Art und Weise, ein feines Gehör für dessen Rede, und das schließliche Abfinden und Zurechtlegen einer Sache, die sich nicht »geben«, nicht unterducken lassen wollte, kam ihm nicht unerwartet.

»Nie, niemal, Sederl«, eiferte er gegen den jungen Kleriker, »werden Sie sich auf Welt und Leut verstehen lernen! Sie habn 'n praktischen Blick noch heut nit. Ließ ich Sie hitzt an meiner Statt machen, Sie gäben gwiß was an, 'n Lebendigen zun Schaden und 'n Toten von keinm Nutz! ... Himmelheiligkreuzdonnerwetter!« Dieser »verluderte Ausdruck« galt keineswegs dem Kaplan; der alte Herr hatte gegen diesen mit vermahnender Geste den Zeigefinger erhoben und dann, um den Tabak zusammenzudrücken, in den Pfeifenkopf gesenkt, jetzt schnellte er ihn mit gelb gesengtem Nagel heraus, schlenkerte damit, und indem er auf die schmerzende Stelle blies, fuhr er fort: »Pfü – üh! Sie wissen nit, wie 'n Leuten völlig ein Stein vom Herzen fallt, wann was[243] Unordentlichs sich wieder in d' Ordnung schicken will, und wie gern da alle mit antauchen helfen, nach einm Abschluß hin, wo sich's 'm Gwohnten und Gleichen einpaßt und 's Ärgern und Deuteln ein End findt. Da mitten hnein 'n Leuten in Arm fallen, das wär Gott und der Welt a schlechter Dienst!«

»Sih ärlauhbeen«, sagte der Kaplan, indem er sich erhob, das alte Pfarrbuch, dessen Lektüre ihn gerade zerstreute, an sich nahm und sich zum Weggehen anschickte, »iich wihl nichtt straiten, ahber tas ahles wihtersträbt mihr inn tiehfster Sälle.«

»Dann schamen Sie sich auch in d' Seel hnein, wie tief s' is«, sagte der Pfarrer. Er hielt ihn mit der Rechten zurück und reckte den linken Arm gegen das Kruzifix an der Wand aus. »Der dort hat auch Zöllner und Sünder nit von sich gwiesen, und wunderbar sein oft die Weg, auf die er Verirrte leit, daß s' nit zu Verlorenen werden! Grad dösmal ziemt mich, ich sähet seiner Gnad und weisen Voraussicht aufn Grund. Sederl – nit daß ich 's Siegel von einm Beichtgeheimnis nähm –, aber das laßt Euch bedeuten: den zwein hat er wohl in seiner Erbarmnis a Verbrechen erspart!«

»Ein Verbrechen?« stotterte der Kaplan.

Der alte Seelsorger drückte den Arm des jungen Mannes. »Zwei vielleicht.« Er nickte ihm ernst zu und schritt hinweg.


Am übelsten kam die alte Zinshofer weg, sie klagten die Leute nicht erst an, sondern trugen ihr offen ihre »Vorschubleistung« nach, man wich ihr aus und war kurz und abweisend im Verkehre, selbst auf dem Sternsteinhofe, wo sie doch allen Dankes gewärtig war, ließ man sie unfreundlich an.

Eines Abends, als wieder ihre Zutulichkeiten und Klagen kein Gehör fanden und sie erbittert vom Hofe hinweglief, faßte sie den alten Sternsteinhofer, der ihr gerade in den Weg kam, am Arme an. »Bauer«, rief sie, »hitzt erfahr ich, was auch du schon seit langem, und in dem Stuck wärn wir völlig gleich!«[244]

Der Alte machte sich frei und wischte über den Joppenärmel, als wäre der durch die Berührung befleckt worden. »Faß ein nit an«, sagte er rauh. »Dir gleich wußt ich mich in keinm Stuck.«

»So kennst leicht Kindsundank nit?!« kreischte das Weib.

»Kein Dank – mag sein! Gegn 'n Undank hab ich mich sichergstellt. Mußt dir schon dein Gspann woanders suchen.« Damit kehrte er ihr den Rücken zu.

Alles, was der protzige, künftige Schwiegersohn für die Alte tat, war, daß er ihr bei beginnendem Winter erlaubte, aus ihrer verfallenen Keusche in das Kleebinderhäusel zu übersiedeln. Da saß sie nun zwischen reinlicheren und festgefügteren Mauern als sonst und fror wie früher, denn die Fuhre Holz, auf die sie gehofft und gerechnet, war ausgeblieben; sie ertrug es so lange, bis es ihr – wie sie sich äußerte – zu dumm wurde.

»Solln s' mir nur a Wörtl sagn, dann werd aber auch ich mein Maul groß auftun«, murrte sie, griff zur Hacke, hieb des seligen Herrgottlmachers Holzvorrat kurz und klein und verfeuerte ihn, und als davon kein Span mehr im Hause war, brachte sie die Figuren des halbfertigen Votivbildes auf den Säge- und Hackblock. Mit boshaft zwinkernden Augen sah sie in die flackernden Flammen und meinte: die Heiligen brennten so gut wie Holz.

Sie half sich ganz leidlich über den Winter hinweg; kurz nach demselben war das Trauerjahr des jungen Sternsteinhofers um, dann mußte ja doch etwas geschehen und ändert sich wohl auch ihre Lage. Den Kopf mit beiden Händen pressend, eilte sie heim, als sie erfuhr – von Fremden sich's mußte sagen lassen –, der Notarius wär schon auf den und den Tag bestellt, um auf dem Sternsteinhofe die Ehpakten aufzusetzen und alles sonst Nötige zu verklausulieren und zu verbriefen.

An dem Tage aber, an welchem der Notar – Toni hatte sich den nämlichen »Findigen« wie sein Vater verschrieben – dort oben auf dem Gehöfte alles richtigmachte, ward die[245] Alte von quälender Neugierde und peinigender Unruhe im Hause herumgejagt, sie hastete Stuben aus, Stuben ein, vom Boden- in den Kellerraum und von dem feuchten Grundmauerwerk wieder hinauf unter die Dachsparren. Doch sie mußte sich gedulden, und erst gegen Abend sah sie jemand eilig auf das Häuschen herzukommen und erkannte, als er nahe war, den Zwischenbüheler Bürgermeister.

Der Ortsoberste trug auf langen Beinen einen merkwürdig kurzen Oberleib und auf dessen breiten Schultern wieder ein auffallend kleines Köpfchen, über den beidseitigen, kurzen Backenbärtchen strebten zwei mächtige Ohrmuscheln, fast »kopfflüchtig«, ins Freie; obwohl seine großen Augäpfel etwas vortraten, so waren sie doch mit ausreichenden Deckeln versehen, welche er denn auch zum Schutze der ersteren gewöhnlich bis auf einen kleinen Spalt geschlossen hielt, was ihm ein ebenso nachdenkliches wie sanftmütiges Aussehen verlieh; der untere Teil des Gesichtes aber, der zwischen den faltigen Wangen wie eingeschrumpft liegende Mund und das kurze Kinn, wurden von der vorragenden Nase überschattet, welche aus leicht zu erratenden Gründen von den Zwischenbühelern »d' Latern« genannt wurde; bei deren Größe und der Kleinheit seines Mundes konnte er es nicht verhindern, daß im Sprechen einzelne Laute den bequemeren Weg durch dieselbe nahmen.

»Du bist die Zinshoferin?« näselte er.

»Ich mein, du wirst mich wohl kennen?« sagte sie giftig.

»Blind wann ich wär, leget ich ein Eid drauf ab, daß du's bist, denn ich kenn dich an deinm Gekeif, aber was konschtadiert werdn muß, das muß konschtadiert werdn, weil ich von Amts wegn mit dir z' reden hab.«

»No, so komm hrein, komm doch hrein.«

Die Alte lief flink voran, und der Bürgermeister stolperte hintennach. Sie wischte einen Stuhl ab und setzte ihn in die Mitte der Stube.

Der Bürgermeister winkte abweisend mit der Hand. »Wir werdn gleich fertig sein.«[246]

»Ah, nein! da schau eins her!« eiferte die Alte, während ihr die Zornröte aufstieg. »Fand's schon keins von denen da drobn der Müh wert, mich hnaufzrufen oder hrunterzkämma, und ließen s' mir durch a Fremds Post zutragn, so will ich doch auch soviel wissen, wie dösselbe weiß, und eh d' mir nit alls sagst, wonach mich neugiert, laß ich dich nit aus der Stubn, mag's hitzt kurz oder lang dauern!«

»Was willst denn wissen?«

»Was gschieht?«

»Was soll gschehn? Dein Tochter wird Sternsteinhofbäuerin. Das kannst dir wohl denken.«

»Was weiter?«

»No, ich mein, 's wär das gnug! aber obndrein nimmt noch der Bauer ihrn Bubn, 'n Muckerl vom seligen Kleebinder, als eigen Kind an.«

»Gar dazu zwingt er sich?« Die Alte bleckte die Zähne, als aber der Mann vor ihr ernst blieb und verwundert die Augendeckel aufzog, besann sie sich und sagte: »No, 's is wohl schön von ihm.«

»Wohl, wohl, Gotts Lohn dafür! Als bstelltem Vormund war mir's kein gringe Freud. Kannst dir wohl denken, daß ich mich nit dagegen gsperrt hab, daß mein Mündel mal als Herr und Eigner af eins von d' größten Anwesen im Land z' sitzen käm!? Jo. Aber obwohl 's Glück bei dem Bubn schon völlig ein Gupf gmacht hat, mußt ich doch noch af eins bstehn, damit ich aller Verantwortlichkeit nachkimm und frein Gwissens d' Vormundschaft niederlegen kann. Das Häusel da is nach 's Vaters Tod 'm Kind –«

»Was«, kreischte die Zinshofer, mit der Faust in den Tisch schlagend, »gar austreiben ließen mich dö von da, und du, alter Krippenreiter, halfst ihnen dazu?! No, schauts enk aber a an, ös zwei dort drobn, denen ich zu allm Schlechten recht war und hitzt zu allm Rechten z' schlecht wär, und du, sorghaftiger Vormund, ob ich enk nit alln miteinander ein dickmächtigen Strich durch d' Rechnung mach! 's Maul tu ich auf und weis nach, daß dem verhöllten Fratzen 's Häusel da nit[247] zukommt, ein Jurament leg ich drauf ab, daß er an 'm Verstorbnen kein Recht hat und der andere ihn nit an Kinds Statt ...«

Der Bürgermeister hatte eine Art Rundtanz um die scheltende Alte ausgeführt – eine choreographische Leistung, weit davon entfernt, Sinnlichkeit zu erregen –, wobei er ein über das andere Mal die Arme beschwichtigend auflüpfte und unablässig raunte: »Halt 's Maul! – dein verwettert Maul halt, sag ich.« Als sie aber dazu weder gewillt noch je willens zu werden schien, sah er selbst zu dem Rechten und schloß ihr mit eigener Hand den Mund. »Du himmelherrgottssakkermentische Kreuzader, eh dein Gift und Gall ausspeibst, laß eins doch ausreden, ich war ja noch nit z' End. Dann – dann such ein Anlaß zun Schelten – müßtst grad du ein finden!«

»No, so red«, murrte die Alte, »red halt.«

»Weil 's selb Häusel doch von gar kein Belang is, so war ich dafür, mer sollt's verkaufen und 'n Erlös 'm Bubn anlegn; der Bauer war einverstanden, hat aber gleich selber a Anbot gmacht, was's überzahlt, no ja, 's kommt doch 'm Kind z' gutem; so warn d'Sternsteinhoferleut Eigner von da, und d' Sternsteinhoferleut schenken's wieder dir, und 's Veranstalten is gtroffen, daß d' in nächstn Tägn grundbücherlich drauf angschrieben wirst. Hitzt weißt's. Hast's auch verstanden?«

»Ei, du mein, je ja, freilich, dös wird doch leicht zu verstehn sein. 's Häusel is hitzt mein!«

»Is dein – und no kannst dich schon dein ausartigs Reden von vorhin reun lassen.«

»Wohl, wohl, war ja nix wie dumm Gschnatter. Du hast als gscheiter Mon gleich nit drauf ghört. Ich schreiet's so frei aus nit, wußt ich, was nachzweisen, und könnt ich a Jurament ablegn?! Wär doch sündhaft gegn d' braven Leut und mein leiblich Tochterkind! Nit? Jo! Burgermaster, tatst mer leicht d' Ehr an für dein gute Botschaft und nahmst a Glasel Wein? Z' Haus hätt ich wohl kein –«

»Dank schön. Ich nimm mitm guten Willn vorlieb, bei dir auch mit weniger. Gute Nacht!«[248]

»Gute Nacht, Burgermaster!«

Was nun die Alte im Hause herumtrieb, Stuben aus und Stuben ein und vom Grundgemäuer bis hinauf unters Sparrenwerk, das war nicht Neugierde noch Unruhe, sondern Lust an dem neuen Eigen. Vieles, worauf sie früher nicht geachtet, besah sie sich erst jetzt genauer; nun galt jeder Nagel an seiner Stelle und zählte mit. Sie lief auch hinaus in den Garten und schlug angesichts der Bäume und Sträuche freudig in die Hände; bei alledem aber verließ sie keinen Augenblick der sittlich erhebende Gedanke, daß sie nichts einem blinden Glücksfalle schulde und, was ihr geworden – redlich verdient habe.


Es war eine stille Hochzeitsfeier, die bald darnach auf dem Sternsteinhofe stattfand, ganz wie es sich für Brautleute schickte und ziemte, die nach kurzem Witwerstande eine zweite Ehe schlossen.

Schier verwundert und verblüfft standen die wackern Zwischenbüheler, als das junge Weib vom Altare wegging. Daß Helene schön war, das wußte man, so schön aber wie an dem Tage ihrer zweiten Trauung hatte sie noch keiner gesehen. Das erste Mal war sie gedrückt in die Kirche gekommen und ebenso aus derselben gegangen, diesmal schritt sie stolz und selbstbewußt einher, nicht anders, wie wenn das, was ihr nun geworden, ihr Rechtens zukäme, doch hielt sie die Lider bescheiden gesenkt, als meide sie, mißgünstigen Blicken zu begegnen, und scheue sich, solche herauszufordern, und wenngleich manchmal über den blühenden Wangen, deren Grübchen ein stilles Lächeln vertiefte, die leuchtenden Augen flüchtig aufblitzten, so sah sich das so unschuldsvoll an wie der Blick eines Kindes, den die greifbaren Herrlichkeiten eines Augenblickes fesseln; kein Schatten der Vergangenheit, keine Wolke, einem bangen Ausblicke in die Zukunft entsteigend, trübte dieses glücksfrohe, heitere Gesicht, und der einzig lesbare Gedanke in demselben: »Erreicht«, zuckte auch nicht durch die Muskeln als unterdrückter[249] Jubelschrei, sondern barg sich hinter einer stillfreudigen, selbstbegnügten Miene.

Die Leute hatten über die Sternsteinhofbäuerin, die, so selbstverständlich sich als solche gebend, an ihnen vorübergeschritten war, die Herrgottlmacherswitwe und die Zinshoferdirn ganz vergessen, und als sich die Boshaftesten auf die längst für diese Gelegenheit »ausgetipfelten Trutzliedeln« besannen, waren die Wägen mit den Hochzeitern und den Gästen schon aus aller Gehör-weite.

Unter den Geladenen befand sich auch der Käsbiermartel, und daß er gekommen, konnte nur den befremden, der den Alten nicht genauer kannte und somit nicht wußte, daß sich dieser keine Gelegenheit entgehen ließ, seinem Spitznamen alle Unehre zu machen, Bier ganz zurückzuweisen und Wein – je besseren, um so lieber – zu trinken und Käse, wenn er welchen aß, nur als Magenschluß zu nehmen, wenn nichts mehr voranzuschicken da war. In der Kirche hatte er sich aber doch nicht blicken lassen und, während der Trauakt unten im Dorfe stattfand, oben auf dem Gehöfte dem alten Sternsteinhofer, der sich gleichfalls fernhielt, Gesellschaft geleistet.

Als nun die neue Bäuerin an der Seite ihres Mannes die Feststube betrat, fand sie sich den beiden Alten gegenüber. Sie trat auf ihren nunmehrigen Schwiegervater zu. Mit leuchtenden Augen, in denen etwas schalkhafte Bosheit lauerte, und mit einem freundlichen Lächeln, von dem er wohl fühlte, es gelte nicht ihm, sondern poche auf das Unbestreitbare ihrer Schönheit, bot sie ihm die Hand. Da er sie nicht ergriff, sagte sie nach einer Weile leise: »No, bin ich halt doch da. Sei gscheit. Willst mir feind bleiben?«

Der Alte schob die Rechte, gleich der Linken, in die Hosentasche und wandte sich an den Käsbiermartel. »Wieder eine. Bin neugierig, wieviel Bäuerinnen ich da noch erleb.«

Rot bis unter die Augenränder, ging Helene von ihm hinweg.

Als während des Tafelns der alte Bauer die Stube verließ, folgte bald darauf die junge Bäuerin ihm nach, sie wartete[250] im Flur, bis er vom Garten zurückkam. »Ich hab dir vorhin d' Hand gboten«, sagte sie.

»So?«

»Blind stell dich nit! Bemerkt habn mußt es.«

»Mag sein.«

» Du hast mir die deine verweigert.«

»Bist auch nit blind.«

»Vor 'n Leuten, allen!«

»No?«

»Das is a Grobheit.«

»Ich bin halt nit fein.«

Er wollte an ihr vorüber, sie aber verstellte ihm den Weg. »Kein Schritt!« rief sie. »Du hörst an, was ich dir z' sagen hab! Meinst, weil du's bist, ich ließ mich da im Haus wie der Niemand behandeln? Da irrst dich gwaltig. Mich lern erst kennen. Weil mir heut in der Kirchen vorm Altar der Gedanken kommen is, da sich ja endlich doch alls wie recht und ghörig gschickt hätt, wär a Unsinn, wegn 'm Frühern einander was nachztragen, so hab ich dir mein Hand dargreicht, nit um dein Freundschaft zu erbetteln, sondern im guten Glauben, auch dir würd dasselbe so christlich wie vernünftige Absehn einleuchten.«

»Stell du zwei Falln auf und leg in jede ein extraichen Speck, ich geh dir in keine.«

»Daß ich dich fangen wollt, das bild dir nit ein. Mir war nur ums gegnseitig gute Drauskommen. Gäbst du mir mein Respekt, gäb ich dir auch 'n dein. Hättst du mit mir a Einsehn, wurd ich auch eins mit dir habn. Du aber willst's anders, und so kann dir's auch werdn! Du sollst nit umsonst die Gedanken in mir aufgriegelt habn, wie mir Sünd und Schand, jeds Unterkriechen und Verstelln, alls, was mich d' siebnthalb Jahr her gpeinigt hat, erspart gblieben wär, hättst du dich seinzeit nit in gleich herzloser wie unnötger Weis dawidergsetzt und damal schon zugebn, was d' heut nit verhindern konntst! Du sollst mich nit umsonst erinnert haben an die Stund, wo ich, mehr tot wie lebendig, die Stiegn[251] da heruntergschlichen bin und zu unserm Herrgott gebet't hab, er möcht mich 'n Tag erlebn lassen, wo ich dir dein erbarmlose Hochfahrt heimzahlen könnt. Derselb Tag is hitzt da, und ich will dir weisen, daß er da is!«

Der Alte sah sie mit zusammengekniffenen Augen und breitgezogenem Munde an. »Was willst mer denn weisen? Du?«

»Was ich dir weis? Dein Ausnahms-Ausnahm afm Hof da, dö werd ich dir vertun.«

»Du unterstündst dich –?!«

»Jedes weitere Wort spar! Vergiß nit, wen d' vor dir hast. Ich brauch mir von dir nix sagen z' lassen!« Damit kehrte ihm Helene den Rücken zu und schritt voran nach der Stube zurück, während der alte Sternsteinhofer mit geballten Fäusten, die eingezogenen Arme vor Wut schüttelnd, hinter-dreinstapfte.

Der große Ärger tat aber weder seiner Eßlust noch seiner Trunkliebe Abbruch, sondern schien beide nur zu vermehren, denn ihm schmeckte kein kleiner Bissen und mundete kein mäßiger Schluck, so daß er, als die Gäste aufbrachen, mit kläglicher Stimme erklärte, daß ihn »nun schon d' Füß verließen und d' Augen nix mehr taugen wöllten«; die Schilderung seines Zustandes ließ man, als der Wahrheit gemäß, unangefochten, aber die Rechtfertigung desselben durch sein Alter wies man spöttisch zurück, und einige Minderbejahrte meinten: heut wären sie just so alt wie er oder er so jung wie sie.

Er erbat sich das Geleite Käsbiermartels, und der Lange mühte sich denn auch getreulich, seinem Schützlinge geweisten Weges über den Hof zu helfen; es gelang ihm, allen kleinen Fährlichkeiten auszuweichen, und wenn es bei größeren merkwürdigerweise fehlschlug, so bestand er sie einträchtig mit dem Freunde. Er rannte mit ihm gegen ein halb offenstehendes Scheunentor, und als dieses durch den Anprall ganz aufflog, so stürzten beide in taumelnder Hast da hinter her, so weit es sich in den Angeln drehte, ein paar Schritte weiter fielen sie Arm in Arm über einen umgestürzten, ausgemusterten Brunnentrog; von diesem einen »Verlauf« und[252] andern »Fall« abgesehen, erreichten sie glücklich das Ziel, und da lallte an der Schwelle des Häuschens der Käsbiermartel: »Was bist du – du aber in dein altn Tägn – für – für a leichtsinniger Mon – gält's – könnt mer dich heut wieder – hint – hint im Wagngflechtel habn ...«

Der alte Sternsteinhofer riß sich von seinem Begleiter los und versetzte ihm eins in die Rippen, daß der laut aufschrie. Aber trotz seiner Erbitterung vergaß der Käsbiermartel nicht, daß ihm doch noch obliege, den Alten unter Dach zu bringen, und so faßte er ihn denn neuerdings an, freilich etwas kräftiger als just not tat, und unter Gefluche und Gepolter ging es die Treppe hinan, unter Gekrache und Geberste zur Kammertüre hinein, und da fand sich plötzlich der Käsbiermartel allein im Finstern. »Sternsteinhofer« – rief er halblaut – »Sternsteinhofer! Wo bist denn? No, so meld dich, dummer Kerl, ob d' da bist?«

Erst nach einer Weile antwortete aus einer Ecke her ein lautes Schnarchen. »Ah so«, sagte befriedigt der Lange, dann sah er nach dem leeren Bette, meinte: »Es wär doch a Sünd«, und legte sich in dasselbe. – –

Früh am Morgen öffnete sich oben auf dem Sternsteinhofe ein Fenster der großen Stube, Helene beugte sich heraus und sah auf das Dorf hinab.

Ein leichter Flor lag noch da unten.

Langsam kam die Sonne im Rücken des Hügels herauf, und unten am Bache ward es licht.

Das Turmkreuz der kleinen Kirche brannte, die Häuschen und Hütten hauchten sich rot an, und einzelne Fenster erglühten.

Frisch wehte die Morgenluft.

Die Bäuerin strich einzelne Haarsträhnen, die ihr vor dem Auge fächelten, zurück.

Als sie nach der letzten Hütte sah, wo sie eine freudlose Kindheit verlebt, und nach dem Häuschen daneben, wo sie sich und andern zu Leid und Last gehaust hatte, da erfaßte es sie gleich der bedrückenden Empfindung verworrenen[253] Träumens; doch von hier oben verschmolzen die einzelnen Behausungen der Straße nach in eine helle Zeile und mit den grünen Hügeln dahinter und dem blauen Himmel darüber in ein freundliches Bild; das eigene Erlebte verblaßte vor dem Gedenken an das gemeinsame Drangsal und Elend, dem sie entronnen und das von zutiefst da unten, am Fuße des Hügels, nicht hinanreichte zum Gipfel, von dem es ihr nun doch vergönnt war herabzuschauen, wie sie es einst in kindischer Seele gewünscht und ersehnt.

So hatte es sich doch gefügt!

Ein dankbares, fast andächtiges Gefühl überkam sie;

dankbar, sie wußte es selbst nicht gegen wen oder was: gegen die Sonne, die alles so warm und freundlich beschien, gegen die Luft, die über allem webte und sich regte, gegen das Dörfchen, die Halde, den blauen Himmel, gegen die ganze, schöne, prangende Welt –? –

Sie faltete die Hände vor der Brust. Lange blieb sie so, plötzlich fuhr sie mit einem lachenden Schrei zurück. Der junge Bauer stand hinter ihr, er hatte sie mit beiden Händen unter den Achseln angefaßt.

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 241-254.
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