Es lebt ein Gott ...

[202] »Es lebt ein Gott, der Schöpfer des Weltenrunds,«

So sagen sie. Doch, geben sie Kunde auch,

Ob von dem Funkeln, das den einen

Tropfen im Meere des Alls umleuchtet,
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Ob er vom Ringen menschlicher Nichtigkeit

Jemals vernahm? »Allmächtig und liebevoll

Ist er, vor seinen Vaterblicken

Birgt im unendlichen Raum sich Niemand,


Kein Schmerz ist ihm, kein Jubel der Freude fremd,

Den Gott der Liebe nennen ihn Alle ja.« –

So sieht er also dieser Erde

Nimmer ermessene Jammerwüste?


Er sieht das Edle unter den Fuß gestampft

Des Tiefgemeinen? Siehet in Qual und Staub

Sich wälzen Millionen Herzen,

Blutend, gemartert ein qualschweres Dasein?


Und endets nicht? Und trümmert und schmettert nicht

Die Welt in's wahnlos friedliche Nichts zurück? –

Den Gott grausamer wär' er wahrlich,

Als der verworfenste Menschenbube!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 202-203.
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