Menschenopfer

[77] Man sagt, die Jugend selbst sei Glück.

Ich hab' es nicht erfahren.

Mir waren niemals hold gesinnt

Die dachnistenden Laren.


Mir fehlte, was die Jugend braucht,

Des Frohsinns Wohlbehagen;

Des Kummers bleiche Wange schon

Als Kind ich mußte tragen.


Die Rebe, die kein Stäblein hat,

Muß bald zu Grunde gehen;

Ich war die Rebe, ward zerwühlt

In wilden Sturmes Wehen.


Nach dir, nach dir, mein Jesu Christ,

Ich jugendlich mich sehnte;

Das grause Schicksal mich und dich

Frevelnd und frech verhöhnte.


Der Pöbelhaß, der Pöbelwahn

Hat dich an's Kreuz geschlagen;

Das Schicksal thut das Gleiche noch

Mit uns an allen Tagen.


Das alte blut'ge Opfer du

Unblutig hast erneuert:

Das Schicksal opfert blutig fort –

Kein Gott, kein Gott ihm steuert!


Es schichtet Stein an Stein empor

Mit riesenkräft'gen Armen;

Ich lieg, ein Mensch, auf dem Altar –

Es gibt, gibt kein Erbarmen.


Es rieselt heiß mein Blut herab

Vom kalten Opfersteine,

Bis daß der letzte Tropfen stockt

Im frierenden Gebeine.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 77-78.
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