Märznacht

[190] 1884.


Nacht, in Deinem Mutterschoße

Ruht der Lenz, ein stilles Kind,

Weiß noch nicht, wie herrlich große

Wonnen ihm beschieden sind.


Seine Augen blicken staunend

Auf die Erde, auf die Braut,

Und von seinen Lippen raunend

Klingt der erste Liebeslaut.


Und die Erde hört ihn klingen,

Breitet weit die Arme aus,

Sehnsuchtsvolle Grüße dringen

Heimlich in die Nacht hinaus.
[190]

Durch das Herz geht ihr ein Beben,

Träumend neigt sie ihr Gesicht,

In der Luft beginnt's zu weben,

Silbern rinnt des Mondes Licht.


Die noch schlafen, aus den Wäldern

Rauscht's wie leiser Vogelsang,

Die noch keimen, von den Feldern

Blüht's wie Duft das Thal entlang.


Flammen leuchten durch die Ferne,

Unhörbare Winde weh'n

Und das Aug' von Stern zu Sterne

Kann den Himmel offen seh'n.


Liebste, siehst Du rings es glimmen,

Siehst Du rings den goldnen Schein,

Hörst Du rings die tausend Stimmen?

Erde saugt den Himmel ein.


Liebste, laß in Dir die Schauer

Weben dieser heil'gen Nacht,

Keines Winter düst're Trauer

Hat nun fürder ob uns Macht.


Und wie diese Nacht, so prächtig,

Wird ob unserm Leben stehn,

Unsre Liebe, lenzesmächtig

Wird sie durch die Seele wehn.


Tausend Blüthen wird sie reifen,

Uns mit tausend Kränzen zier'n,

Wird mit lauen Winden streifen

Allen Staub von unsrer Stirn.


Nach den Tagen heiß vom Ringen

Wird sie mondesglanzgeweiht,

Uns mit heimlich süßem Klingen

Wiegen in Traumseligkeit.
[191]

Nacht des Märzen, Nacht der Liebe,

Euer Schoß gebiert das Licht,

Die ihr heiliget die Triebe,

Eure Flammen löschen nicht.


Lenze keimen und vergehen

Und der Erde Bau zerfällt,

Doch aus euch wird auferstehen

Ewig neu die goldne Welt.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 190-192.
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