Natur

[272] Skizzenbuch.


Natur, allheil'ge

Heilende Göttin,

An deinen vollen,

Nährenden Brüsten

Lieg' ich und schlürfe

Milch des Lebens.

Aus deinem Munde

Geht des Windes

Wunderathem

Und löscht mit schnell

Vergang'nen Wetters

Feuchtem Hauch

Der Wangen stürmisch

Aus Herzenstiefen

Steigende Hochgluth.

Deiner Locken

Grüne Fluthen

Wogen rauschend

Ueber mir,

Und nieder schaut

Dein blaues, klares,

Glänzendes Auge

Wonnig lächelnd.

O, Lebensschauer

Der Weseneinheit,

Verschlung'nes Weben

Des Weltenall's!

Ich seh' es fluthen

In ew'gem Strome,

Ich seh' es wachsen

Zu ew'gem Bau.

Such' ich die Quelle,

So sprüht ein Nebel

Und hüllt den Blick mir,

Und wo begründet,

Des Hauses Pfeiler,

Die Räthselstelle

Ich fand sie nicht.[273]

Und dennoch bet' ich

Voll süßen Grauens

Zu deiner Hoheit,

Mutter Natur

Und schlürfe durstend

An deinen vollen,

Nährenden Brüsten

Milch des Lebens.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 272-274.
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