Pallas lunatica

[35] Es war in einer blauen Sommernacht;

Vom Himmel schien, wie blüh'nd in Lilienpracht,

Der Mond hernieder in mein Kämmerlein,

In dem ich saß am Fenster und allein.


Ich saß allein, das Herz von Trauer schwer,

Indeß aus einem fernen Garten her

Brummbaß und Geige durch die Stille klang

Zu wildem Tanz und lustig tollem Sang.


Das Herz von Trauer schwer, saß ich allein,

Sah wie gebannt in diesen weißen Schein

Des Mondenlichts, und geisterhaft und mild

Schien auf mich nieder, ach ein leuchtend' Bild.


Ich kenne dich, o Antlitz, edelbleich,

Wer riß dich aufwärts aus dem Schattenreich,

Wo du seit Jahren schliefest wonnestill,

Die blasse Stirn umkränzt von Asphodill?


Was siehst du mich so glänzend schweigsam an?

Ha, immer wirket noch dein Zauberbann,

Der mich emporträgt mit des Adlers Schwung –

O Sehnsucht, Sehnsucht, o Beseligung!


Vergessen wie ein Traum der Erde Leid!

O Himmelslust! O Wleteneinsamkeit!

Ach, weißes Antlitz, lotosblumenschön,

Was blickst du sinnend auf zu neuen Höh'n?
[35]

»Schau'st du dort oben jenes höchste Licht« –

O frommes Kind, ich seh es nicht, noch nicht;

Ich seh' nur, wie versinkt das Blau der Nacht

In immer düst'rer glänzend schwarze Pracht.


»Geduld! wir sind von ihm nicht mehr so weit« –

O du mein Stern, umhüllt von Seligkeit,

Wag' ich zu ahnen kaum das höchste Licht,

Von dem dein blasser Mund verheißend spricht.


»O weiter, weiter nur zum Flug hinan« –

Mein heilig Kind, ich bin ein kranker Mann,

Bin müde, grenzenlos, schon sink' ich, weh ...

Von unten winkt ein nachtschwarz stummer See.


O du mein Stern, o weiße Blume du,

Mein Himmel, ach, ich sehne mich nach Ruh –

»Geliebter, siehst du nicht den ros'gen Schein?« ...

Mein Muth zerbricht, weh' mir, flieg du allein!


Umathmet schon vom Hauch des ew'gen Lichts,

Sank ich hinab ins bodenlose Nichts;

Und während aus den Tiefen ich so nah

Des ries'gen Dämons höhnisch' Grinsen sah,


Da scholl es wild wie ein Verzweiflungsschrei

Von oben her in grauser Melodei:

»Getrennt auf immerdar! Du glaubtest nicht

An der Verheißung ewig leuchtend Licht!«


Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich war erwacht

Aus meinem Traum; und in die blaue Nacht

Sah ich hinaus; verstummt war Sang und Tanz –

Und nur zu fühlen noch des Mondes Glanz.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 35-36.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Liebelei. Schauspiel in drei Akten

Die beiden betuchten Wiener Studenten Theodor und Fritz hegen klare Absichten, als sie mit Mizi und Christine einen Abend bei Kerzenlicht und Klaviermusik inszenieren. »Der Augenblich ist die einzige Ewigkeit, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört.« Das 1895 uraufgeführte Schauspiel ist Schnitzlers erster und größter Bühnenerfolg.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon