Eilftes Bild

[704] Als die Königin das Kind von ihrer Brust entwöhnt hatte, da sagte ihr der König, daß er in der Stunde ihrer Not die Beschleunigung des Kirchenbaus im Schwarzwalde durch eine strenge Wallfahrt dahin gelobt habe. Sie sei nun glücklich befreit und er wolle seinem Gelübde treu, von ihr Abschied nehmen. Aber die Königin erklärte, er dürfe nicht allein gehen, sie müsse mitziehen; sie ließ sich durch keinen Grund zurückweisen, wie Weiber sind; unter andern ersann sie, daß sie den Vater als Vogel einfangen und samt der Mutter im Käfig mit sich nehmen wolle, damit der Vater die Zeit nicht benutze, sein Heldenspiel fertig zu schreiben und sich ihnen auf immer zu entziehen. Die zwölf geflügelten Boten versprachen für den kleinen Königssohn in ihrer Abwesenheit Sorge zu tragen, wie sie es ohne Beihülfe andrer täglich zu tun gewohnt waren, und sich nicht abschrecken ließen, wenn das starke Kind mit kindischem Ungeschick zuweilen einen ergriff, drückte oder rupfte. Sie standen in solchem Falle einander so treulich bei, daß sie bald des Kindes Meister wurden, und das Kind folgte ihnen in allem, worin es sie verstehen konnte. In dieser Obhut ließen sie nach unzähligen Küssen das geliebte Kind und begaben sich heimlich, um jedes Gefolge von Leuten zu vermeiden, das ihrer Demut ein Vorwurf zu sein schien, aus der Stadt, ohne zu ahnden, daß sie das Kind und die Stadt zum letztenmal gesehen hätten. Erst mehrere Stunden nach ihrer Auswanderung verbreitete sich das Gerücht derselben und große Scharen frommer Pilger folgten ihnen nach. – Es hatte sich aber, seit der König selbständig und gerecht die Regierung übernommen hatte, viel Glück über alle verbreitet, nur die Grafen wollten das nicht erkennen, weil sie sich durch die Gerechtigkeit in ihren Einnahmen sehr beschränkt fanden. Jener Graf des Nibelgaus, welcher sich die meiste Schuld dieser neuen Wendung der Dinge beimaß, weil er sie seiner Feigheit zuschrieb, teils von Liebe zu der Königin gequält, nun auch von Ärger über die Geburt des Prinzen erfüllt, weil dieser die Hoffnung der Nachfolge ihm raubte, fand sich vom Geiste der Versuchung gereizt, durch den Mord des Königs sein Schicksal ändern zu wollen. Diese Wallfahrt, die einer seiner Diener auskundschaftete, bot ihm die Gelegenheit zur unbemerkten Ausführung.[704] Die Vormundschaft über das königliche Kind konnte ihm nach dem Tode des Königs nicht streitig gemacht werden, wie leicht konnte es aus der Reihe der Lebenden vertilgt werden; die Königin hoffte er durch sein Liebesglück und durch sein Ansehen sich dann zuzueignen. Der Graf war zum Schein zu seinem Bruder gefahren, hatte sich aber, ohne eines Menschen Begleitung nach dem Schwarzwalde gewendet und lauerte an der gebahnten Straße der Wallfahrer. Der ganze Weg hatte unsre beiden Pilger ganz in die Zeit ihrer ersten Liebe versetzt, mancher Kuß hemmte die Reise, sie sahen nicht um sich, sondern vergaßen sogar oft das angelobte Gebet. Umsonst warnten sie die beiden Vögel im Käfig, der Wurfspieß des Grafen hatte beide durchbohrt und den Käfig der Vögel durchbrochen, ehe sie eine der Warnungen vernommen hatten; ohne Schrecken, ohne Ahndung, noch freundlich lächelnd, hatte der Mordstahl ihren Lebensfaden durchschnitten. Aber der Graf sah mit Verzweifelung zu ihnen hin, denn nicht die Königin sollte sein Spieß treffen, aber ein zärtlicher Kuß hatte sie an den König gedrückt, als schon das Wurfspieß seiner Hand entschleudert war. Erst jetzt fühlte der Graf, daß mehr seine Liebe zu der Königin als der Wunsch nach der Herrschaft ihn getrieben, er haßte sich und sein Unglück, das er sich selbst geschaffen hatte. Den Mord stellt das Bild dar.

Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bde. 1–3, Band 1, München 1962–1965, S. 704-705.
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