139.

Der beste Führer.

[284] Im Thon: Jehova ist mein Licht und Gnaden-Sonne.


1.

So führst du doch recht selig/ Herr/ die Deinen/ ja selig und doch meistens wunderlich! Wie könntest du es böse mit uns meynen/ da deine Treu nicht kan verleugnen sich? Die Wege sind offt krumm und doch gerad/ darauff du läst die Kinder zu dir gehn/ da pflegt es wunderseltzam außzusehn: doch triumphirt zuletzt dein hoher Rath.


2.

Dein Geist hängt nie an menschlichen Gesetzen/ So die Vernunfft und gute Meynung stellt: Den Zweiffels-Knoten kan dein Schwerdt verletzen/ Und lösen auff/ nachdem es dir gefällt. Du reissest wohl die stärcksten Band entzwey/ Was sich entgegen setzt/muß sincken hin. Ein Wort bricht offt den allerhärtsten Sinn/ dann geht dein Fuß auch durch Umwege frey.


3.

Was unsre Klugheit will zusammen fügen/ das theilt dein Witz in Ost und Westen auß: Was mancher unter Joch und Last will biegen/ Setzt deine Hand frey an der Sternen Hauß. Die Welt zerreist und du verknüpffst in Krafft/ Sie bricht/ du baust; sie baut/du reissest ein. Ihr Glantz muß dir ein dunckler Schatten seyn. Dein Geist bey Todten Krafft und Leben schafft.


4.

Will die Vernunfft was fromm und selig preisen/ So hast dus schon auß deinem Buch gethan: Wenn aber niemand will diß Zeugnuß weisen/ das führst du in der Still selbst Himmel an. Den Tisch der Pharisäer lästu stehn/ Und speisest mit den Sündern/ sprichst sie frey: Wer weiß/ was öffters deine Absicht sey? Wer kan der tieffsten Weißheit Abgrund sehn?
[284]

5.

Was alles ist/ hat nichts in deinen Augen/ Was nichts ist/ hast du/ grosser HERR/ recht lieb/ der werthe Pracht und Ruhm mag dir nicht taugen/ du gibst die Krafft und Nachdruck durch den Trieb. Die besten Wercke bringen dir kein Lot/ Sie sind versteckt/ der blinde geht vorbey/ Wer Augen hat/ sieht sie doch nicht so frey; die Sachen sind zu klar/ der Sinn zu grob.


6.

O Herrscher sey von uns gebenedeyet/ der du uns tödtest und lebendig machst. Wann uns dein Geist der Weißheit Schatz verleyhet/ So sehn wir erst/ wie wohl du vor uns wachst. Die Weißheit spielt bey uns/ wir spielen mit. Bey uns zu wohnen ist dir lauter Lust/ die reget sich in deiner Vatter-Brust/ Und gängelt uns mit zarten Kinder-Schritt.


7.

Bald scheinst du uns was harte anzugreiffen/ Bald fährest du mit uns gantz säuberlich. Geschichts/ daß unser Sinn sucht außzuschweiffen/ So weist die Zucht uns wieder hin auff dich. Da gehn wir denn mit blöden Augen hin/ du küssest uns/ wir sagen Bessrung zu/ drauff schenckt dein Geist dem Hertzen wieder Ruh/ und hält im Zaum den außgeschweifften Sinn?


8.

Du kennst/ o Vatter/ wohl das schwache Wesen/ die Ohnmacht und der Sinnen Unverstand. Man kan uns fast an unser Stirn ablesen/ Wie es um schwache Kinder sey bewand/ drum greiffst du zu und hältst und trägest sie/ Brauchst Vatter-Recht und zeigest Mutter-Treu/ Wo niemand meynt/ daß etwas deine sey/ da hegst du selbst dein Schäfgen je und je.


9.

Also gehst du nicht die gemeine Wege/ dein Fuß wird selten öffentlich gesehn/ damit du sehst/ was sich im Hertzen rege/ Wenn du in dunckelheit mit uns wilt gehn. Das Widerspiel legst du vor Augen dar Von dem/ was du in deinem Sinne hast. Wer meynt/ er hab den Vorsatz recht gefast/ der wird am End ein anders offt gewahr.


10.

O Auge/ das nicht Trug noch Heucheln leidet/ Gib mir der Klugheit scharffen Unterscheid/ dadurch Natur von Gnade wird entscheidet/ das eigne Licht von deiner Heiterkeit. Laß doch mein Hertz dich niemahls meistern nicht: Brich gantz entzwey den Willen/ der sich liebt/ Erweck die Lust/ die sich nur dir ergibt/ Und tadelt nie dein heimliches Gericht.
[285]

11.

Will etwa die Vernunfft dir wiedersprechen/ Und schüttelt ihren Kopff zu deinem Weg; So wolst du die Bevestung niederbrechen/ daß ihre Höh sich nur bey Zeiten leg. Kein frembdes Feuer sich in mir anzündt/das ich vor dich in Thorheit bringen möcht/ Und dir wol gar so zu gefallen dächt. Ach selig der dein Licht ergreifft und findt.


12.

So zieh mich dann hinein in deinen Willen/ Und trag und heg und führ dein armes Kind. Dein innres Zeugnuß soll den Zweiffel stillen/ dein Geist die Furcht und Lüste überwind. Du bist mein Alles/ denn dein Sohn ist mein/ dein Geist regt sich gantz kräfftiglich in mir. Ich brenne nun nach dir in Liebs-Begier/ Wie offt erquickt mich deiner Klarheit Schein?


13.

Drum muß die Creatur mir immer dienen/ Kein Engel schämt nun der Gemeinschafft sich: die Geister/ die vor dir vollendet grünen/ Sind meine Brüder und erwarten mich. Wie offt erquicket meinen Geist ein Hertz/ das dich und mich und alle Christen liebt/ Ists möglich/ daß mich etwas noch betrübt? Komm Freuden-Quell/ weich ewig aller Schmertz!

Quelle:
Gottfried Arnold, München 1934, S. 284-286.
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