59.

Aus dem V. Cap. v. 8.

Ich beschwöre euch, ihr töchter Jerusalem, findet ihr meinen Geliebten, was wollt ihr ihm anzeigen? Daß ich vor liebe kranck liege.

[332] Nach dem lied: Ich lebe nun nicht mehr.


1.

Ich weiß nicht, wie mir ist,

Ich fühl den großen schmertzen,

Der mir mein leben frißt,

Und geht so tieff zu hertzen.

Wer bringet mir den besten rath?

Wer ists, der vor mich rettung hat?

Weil meine lieb im sterben ist.


2.

Zwey mahl bin ich so schwach

Und kranck gelegen nieder.

Das erste ungemach

Kam offt und häuffig wieder.

Das war vor meiner ersten buß

Da man in sünden sterben muß,

Wenn seel und leib verdammet ist.

3.

Da hofft ich hier und dar

Artzney und ruh zu finden:

Mein unstät hertze war

bereit sich zu verbinden

Mit welt und geld, mit pracht und lust,

Was nur der eigne wille wust,

Und doch die wahre ruh nicht ist.
[332]

4.

Als aber ich das heyl

Nach ernster busse funden

In Jesu, der mein theil

Ward in so vielen wunden,

Zur Medicin vor meinen tod,

Da sprach ich: nun hats nicht mehr noth,

Weil Jesus meine heilung ist.


5.

Und freylich hat der trieb

Des Vaters mich gezogen

Zum Sohn, von dessen lieb

Ich mich find überwogen.

Sein Göttlich licht entzünd't in mir

Unendlich starcke liebs-begier

Im hertzen, das verwundet ist.


6.

Ich kan ohn ihm nicht ruhn,

Viel wen'ger selig leben:

Drum hab ich eignem thun

Und fromm seyn mich er geben:

Da lieff ich aus mir hin und her

Und forscht nach ihm bey menschen sehr

Ob er bey creaturen ist?


7.

Das lauffen macht mich matt,

Ich sanck in ohnmacht nieder,

So daß mein mund sich hat

Eröffnet an die brüder:

Ach findt ihr meinen liebsten wo,

So sagt ihm, daß ich sterb also,

Weil er von mir entfernet ist.


8.

Bald war die antwort da,

Im tieffsten seelen-grunde:[333]

Das wort ist dir so nah

Im hertzen und im munde.

Was ists, das dich verliebt gemacht,

Und in die liebes-schmertzen bracht?

Ists nicht das wort, das in dir ist?


9.

Von armer creatur

Wirstu den schatz nicht kauffen,

Ob du schon alle spur

Der Secten wolltst durchlauffen,

Ach glaube mir, sie taugen nicht:

Ihr thun ist schein und falsches licht,

Weil ihre leucht verloschen ist:


10.

O seel, Gott ist ein licht,

Darzu man nicht kan kommen,

Wo alle nicht

Vollkommen sind benommen.

Drum such Gott selber nur durch Gott,

Das licht im licht bey creutz und spott,

Wie Jesus dir ein fürbild ist.


11.

Darauff erschwung ich mich

Aus meinem eignen leben,

Und wollte dürstiglich

In Gott mich ein ergeben:

Ach aber ich fand mich zu schwach,

Und schrie ihm nach mit weh und ach:

Wo ist er, der mein leben ist?


12.

Hier fand ich zwischen mir

Und Gott viel bilder stehen,

Die mich verhindert hier

Ins heiligthum zu gehen:

Und gleichwol hatt' ich keine krafft,

Biß er sie selber aus mir schafft,

Mir statt der vielheit eines ist.
[334]

13.

Nunmehr ist er mir auch

Die Medicin gewesen:

Und was ich sonsten brauch,

Darff ich aus ihm erlesen.

Nun frag ich nichts nach creatur

Es sterb vernunfft, will, fleisch, natur,

Gnug, daß er Eins und Alles ist!

Quelle:
Gottfried Arnold, München 1934, S. 332-335.
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