IV

[56] Lydia war, als sie Alicens Zimmer verlassen, nach dem ihrigen gegangen, um – wie Alice richtig vermuthet hatte – zu beten. Das arme Kind war unmittelbar nach der fürchterlichen Katastrophe, die der Leser aus der mit ihrem Namen betitelten Erzählung kennt, in eine tiefe Apathie gefallen, welche sie gegen Alles, was sie umgab, selbst gegen Alicens aufopfernde Freundlichkeit, fast gänzlich unzugänglich machte. Aber Alice wußte diese Stimmung eines gebrochenen Herzens zu würdigen. Aufopferungsfähig und liebenswürdig, wie sie überall da war, wo ihre Empfindung wirklich angeregt wurde, widmete sie während der ersten Monate ihrer gemeinsamen[56] Reise der unglücklichen Freundin und Leidensschwester ihre ganze Theilnahme, bis sie in Paris die Bekanntschaft Lichninsky's machte, und dadurch in kurzer Zeit in das Gewirre des politischen Lebens hineingezogen wurde. Es entging ihr nicht, daß der Fürst ihre unglückliche Freundin »bemerkt« hatte. Sie seinen Augen und Wünschen zu entziehen, beschloß sie aus doppelter Rücksicht, für sich selbst wie für Lydia. Sie reiste deshalb mit ihr nach Straßburg zu einer Freundin, wo nun Lydia unter angenommenen Namen ruhig und harmlos ihren Erinnerungen und – bald auch einer – neuen Liebe lebte. Aber der Fürst hatte seine Absichten auf die schöne Freundin Alicens nicht aufgegeben. Einer seiner Kundschafter wurde in Straßburg durch einen Zufall auf sie aufmerksam. Die Arme schien in der That vom Schicksal dazu ausersehen, die Gewalt der Liebe nur aus der Qual und den Schmerzen, welche sie spendet, kennen zu lernen. In Straßburg blühten die Rosen ihrer Wangen wieder auf – sie begann sich mit dem Leben auszusöhnen, denn es war die[57] Liebe wieder in ihre kindliche Brust gezogen. – Da plötzlich streckte der Verrath seine Hand aus gegen die süße Liebeswelt – und sie stürzte wie ein Kartenhaus zusammen. – Lydia verschwand plötzlich aus Straßburg. – Alice erfuhr es durch ihre Freundin früher, als selbst der Fürst durch seine Spione. Schnell entschlossen reiste sie der Flüchtigen entgegen. In einer kleinen französischen Stadt, wenige Meilen von Paris entfernt, traf sie den Entführer. So war zwar die Unglückliche gerettet, aber zugleich ihr Liebesglück zerstört. Nun reisten die beiden Frauen, da sie sich in Paris nicht sicher glaubten, nach Wien. Denn Alice hatte es über sich genommen, das arme Kind, das sie als ein letztes heiliges Vermächtniß aus einer Zeit betrachtete, wo sie selbst noch wahrer Liebe fähig war, vor dem Pesthauch frivoler Verhältnisse zu bewahren. Von Wien aus schrieb sie an den Fürsten, machte ihm wegen seines Verraths Vorwürfe und kündigte ihren festen Entschluß an, ihre Freundin gegen seine Verfolgungen zu schützen.[58]

Er kam darauf selbst nach Wien und versprach Alicen, von nun an keinen Schritt zu thun, der ihr Mißfallen erregen könne. – So kehrte das alte vertraute Verhältniß zwischen ihm und Alice zurück und durch seine Vermittlung war sie in den engeren Kreis des Metternichschen Hauses eingeführt worden, wo sie durch ihre unendliche Anmuth und durch den unwiderstehlichen Reiz, welcher ihr ganzes Wesen durchwehte, sich in kurzer Zeit ein festes Terrain zu erobern, und besonders das Vertrauen der Fürstin zu erwerben gewußt hatte. Der Einfluß, welchen sie durch ihre Zurückhaltung und die Kunst bescheidener und feiner Schmeichelei gewann, wurde in ihrer geschickten Hand zu einem Schlüssel für manches bald diplomatische bald neotische Geheimniß, und nur ihrer großen Vorsicht hatte sie es zu danken, wenn dieser Schlüssel ihr nicht wieder genommen wurde. So hatte sie es bald dahin gebracht, daß sie in dem Hause der Fürstin keinen Feind – ja – was noch mehr sagen will – keine Feindin und nur sehr wenige Beobachter hatte. Unter diesen[59] fürchtete sie jedoch nur einen; es war der Beichtvater der Fürstin – Pater Angelikus. Vor seinen Blicken – das fühlte sie wohl – konnte die Rolle, welche sie spielte, nicht ganz undurchschaut bleiben: so faßte sie – – nach dem Grundsatz: »nur ganzes Vertrauen schützt gegen den Mißbrauch des halben« – den Plan, nicht etwa, ihn zu ihrem Vertrauten zu machen, sondern sich selbst, durch den Schein ihres Vertrauens, zu seiner Vertrauten zu machen. Und dies gelang ihr endlich, nachdem sie lange vergebens alle ihre Mittel verschwendet. Schon das erste Mal, als sie mit dem Beichtvater und Lichninsky bei der Fürstin Metternich zusammentraf, gewahrte sie durch die dicke Rinde, mit der der Pater seine Brust und die darin gährenden Leidenschaften umpanzert hatte, den tiefen Haß desselben gegen den Fürsten hindurchscheinen. Ein zweiter Blick auf Lichninsky belehrte sie, daß dieser, dessen Charakter zu studiren sie hinlänglich Gelegenheit gehabt, zwar keine Ahnung von diesem Hasse hatte, dennoch aber die Gesellschaft des Paters gerade[60] nicht aufsuchte. – Die Ursache dieses eigenthümlichen Verhältnisses zu erforschen, wollte ihr lange Zeit nicht gelingen. Endlich griff sie zu dem äußersten Mittel, den Pater als Seelenarzt bei Lydia einzuführen. Der Eindruck, welchen das Schicksal und der wehmüthige Anblick des guten Kindes auf Angelikus hervorbrachte, war ein gewaltiger. Der harte, kalte Priester war bis ins Innerste erschüttert. Jetzt hatte Alice, die während der ganzen Scene keinen Blick von seinen Zügen verwandt, auch den Schlüssel zu diesem Geheimniß gefunden. Es ist wahr, ihre arme Freundin verdiente gewiß das tiefste Mitgefühl, aber solchen Eindruck, wie sie ihn auf den Pater hervorbrachte, konnte nur aus ähnlicher Erfahrung, aus gleichen Leiden hervorgehen. Ein Gedanke an Lichninskys frivolen Charakter führte Alicen schnell auf die richtige Vermuthung, daß ihr eigenes Schicksal vielleicht mit dem des Paters große Aehnlichkeit habe.

– Gestehen Sie, Angelikus – sagte sie einige Wochen nach jener Scene, während dessen der[61] Pater seine Besuche bei Lydia eifrig fortgesetzt hatte, im Verfolg eines Gesprächs über den religiösen Trost gegen das Unglück der Liebe – gestehen Sie, daß im Grunde damit nur erreicht wird, daß man eine Schwärmerei gegen die andre austauscht. Oder glauben Sie – Alice legte einen Nachdruck auf das letzte Wort – daß die Religion gegen den Schmerz betrogener Liebe wirklich tröstet? Bei Lydia würden Sie sich gewiß täuschen.

– Ich verstehe Sie nicht, theure Freundin – erwiederte Jener, der sehr gut verstand, indem er seine Bewegung zu verbergen suchte.

– Sie verstehen mich sehr wohl. Sind Sie, antworten Sie aufrichtig, durch den Trost der Kirche von allen Leidenschaften, von Liebe und Haß, geheilt? – O, frommer Vater, Sie täuschen mich nicht. Sie lieben und hassen noch, eben so glühend wie früher, vielleicht noch glühender. – Der Pater schwieg, aber eine flüchtige fieberhafte Röthe bedeckte seine Stirne, als er[62] aufstand und, Alicen die Hand reichend, mit bebender Stimme und düsterer Miene sagte:

Wohlan, Sie mögen Recht haben, und weil Sie Recht haben, so will ich von diesem Augenblick Ihr Freund sein, weil ich Ihr Feind zu sein nicht den Muth habe. Sie sehen, daß ich aufrichtig bin. Aber nun dringen Sie nicht in mich. Später werde ich Ihnen den Beweis geben, daß, wo ich liebe und hasse, ich Grund zu Beidem habe. Mit einem Blicke, in dem eine bis zur Wildheit tiefe und verzehrende Leidenschaft blitzte, verließ er sie schwankenden Schrittes.

Seit diesem Gespräch hatten sie absichtlich dies Thema vermieden. Alice war nicht neugierig, und sie beruhigte sich über das Schweigen des Paters mit dem Grunde, daß er selber nicht wissen konnte, wie weit sie bereits in sein Geheimniß eingedrungen sei. Selbst als sie seiner Forderung, Zeuge des Gesprächs mit Lichninsky zu sein, nachgab, hatte sie keine derartige Bedingung gestellt, weil sie in dieser Forderung selbst schon eine Concession erblickte.[63]

Kehren wir nun nach dieser Abschweifung zu Lydia zurück.

Als sie in ihr Zimmer getreten war, schritt sie sogleich auf eine Nische zu, welche durch ein hohes, aus glänzend weißem Elfenbein gearbeitetes Kruzifix ausgefüllt wurde. Sie knieete auf den rothsammtnen Betschemmel nieder, senkte den Kopf in ihre beiden Hände und schien bald in ein tiefes und inbrünstiges Gebet versunken. Der Mond warf sein volles Licht auf die schöne Beterin und die weißen Gebeine des Christusbildes, während der übrige Theil des Zimmers fast ganz in Dunkel gehüllt war. Von Zeit zu Zeit, wenn sie ihr thränenfeuchtes Antlitz zum Gekreuzigten emporrichtete, mit den von Schwermuth und holdem Irrsinne erfüllten Augen, zeichnete sich das reine und jungfräuliche zarte Profil in wunderbarer Schönheit auf dem dunkeln Hintergrunde ab. O, wer sie in diesem Augenblicke geschaut, mit dem von ungehörten Seufzern geschwellten Busen und den zarten ineinander gerungenen Händen – gegenüber dem kalten, unempfindlichen Christusbilde,[64] das mit derselben kunstvoll kalten Schmerzensmiene herabblickte auf den lebendigen heißen Schmerz der sündenlosen, geknickten Madonna: Wer hätte da noch den Glauben bewahren können an Andacht und göttliche Vorsicht –? Konnte ein Gott der Barmherzigkeit kalt bleiben gegen diese Schmerzen, konnte der Vater des Himmels sein väterliches Ohr verschließen vor diesen Seufzern? – Ungetröstet und klagelos erhob sie sich. Noch einen Blick warf sie, einen Blick voll tiefer, unaussprechlicher Wehmuth auf den Gekreuzigten – dann nahm sie ihr Gebetbuch, warf rasch den Mantel um die Schultern, zog den Schleier über das Gesicht und verließ das Zimmer. Sie ging zur Messe. Als sie aus dem Hause trat, mochte sie sich wohl daran erinnern, daß es schon zu spät sei, um ohne Begleitung sich in die Straßen zu wagen. Sie zauderte einen Augenblick und war im Begriff zurückzukehren, da sah sie an der Balustrade des Perrons eine Gestalt lehnen, welche jetzt, durch ihre zaudernde Stellung aufmerksam gemacht, auf sie zutrat und in gebrochenem[65] Deutsch fragte, ob »Sennora« etwas befehle.

Lydias Furcht verschwand, als sie sich überzeugte, daß es ein Knabe in Livrée war, der vermuthlich hier auf seinen Herrn warte. – Ein unerklärliches Gefühl von Neugierde trieb sie an, ihn zu fragen, auf wen er hier warte. Der Knabe, in dem der Leser schon längst unsern Salvador erkannt haben wird, gerieth durch diese Frage in augenscheinliche Verlegenheit, endlich erwiederte er, Pater Angelikus habe ihn hier her bestellt, auf ihn zu warten.

– Willst Du mich nach der Kirche begleiten, mein Kind? – fragte Lydia.

– O, wie gern, Sennora, erwiederte Salvador.

Lydia gab ihm, ohne weiter ein Wort mit ihm zu wechseln, ihr Meßbuch und ging rasch auf den Stephansplatz zu.

Salvador war – obgleich Südländer, noch ein ganz unbefangenes Kind. Doch kam er heute zum ersten Male darüber zum Nachdenken, daß[66] die »Sennora« ihn Kind genannt, und er stellte an sich die Frage, ob er denn noch sehr »kindisch« aussehe. Auch war er zwar von dem Vertrauen der »Sennora« zu ihm – denn es konnte ja eine Lüge sein, daß er im Dienste des Paters sei – gerührt; gleichwohl dünkt es ihn, als ob seine Rührung noch größer sein würde, wenn sie weniger schnell Vertrauen zu ihm gefaßt hätte. Diese Widersprüche, welche er sich gar nicht erklären konnte, beschäftigten ihn, während er still neben Lydia daher schritt, so sehr, daß er fast vergessen hätte, beim Eintritt in die Kirche die Finger ins Weihwasser zu tauchen und ein frommes Kreuz auf Brust und Stirn zu zeichnen. Die Kirche war fast leer; vereinzelt knieten hier und dort einige Beter, unbeweglich und stumm, so daß man versucht gewesen wäre, sie für eine jener leblosen Steingruppen zu halten, mit denen die Nischen und Pfeiler der Kirche geschmückt waren, wenn nicht zuweilen ein tiefer Seufzer ihrer Brust entstiegen und mit dem Schmerz der Reue auch das Leben in ihr kund gethan. Lydia[67] kniete hinter einer Säule, die ihren breiten Riesenschatten über sie hinwarf, so daß sie unbemerkbar bleiben konnte. Salvador ließ sich hinter ihr auf ein Kniee nieder. Der harmonische Donner der mächtigen Orgel, welche ihre vollen Klangmassen durch die weiten Hallen der Kirche wälzte, wiegte sie in jenes verführerische Entzücken, welches mit der Ueberzeugung göttlicher Erregung das Herz in alle Reize einer hingebungsvollen, glühenden Einbildungskraft versenkt. Denn das Herz – wie rein und schuldlos oder wie befleckt von Begierden es sein mag – bedarf des Gefühls einer vollen Hingabe. Es ist sein Beruf, sich aufzulösen in ein Meer von selbstgeschaffner und selbstgewährter Wonne; und es ist nur eine Täuschung, wenn wir glauben, daß die Hingabe eines gläubigen Herzens an den Zauber der Musik und der andern Künste, welche die katholische Kirche mit so feiner Raffinerie zur Ehre des »Herrn« zu gebrauchen versteht, eine andere Art der Erregung voraussetzt, als etwa die Hingebung des Herzens an den Geliebten. Darum[68] hatte Alice recht, zu sagen, es hieße nur eine Schwärmerei gegen eine andre eintauschen, wenn man den süßen Schmerz der Liebe durch den schmerzensreichen Trost religiöser Schwärmerei heilen wolle. Eine halbe Stunde mochte bereits verflossen sein, und immer noch lag Lydia auf den harten, kalten Fliesen, ihre Hände, denen das Meßbuch entfallen war, hingen schlaff in den Schooß herab, die Augen waren halb geschlossen, aber wer einen Blick zwischen diese noch von den Thränen feuchten Lider hätte thun können, würde erschreckt worden sein von der innern Glut, welche sich in ihnen concentrirt hatte, jedoch mehr nach Innen als nach Außen strahlte. Die Blässe ihrer Wangen war geisterhaft und stach um so mehr von der tiefen Röthe ihrer halbgeöffneten Lippen ab, die sich von Zeit zu Zeit bewegten. Waren es Gebete, die sie zum Himmel sandte, oder Seufzer einer ungestillten Liebessehnsucht? –

Die Orgel schwieg. Lydia fuhr aus ihrem traumartigen Zustande empor. Sogleich kehrte die Röthe auf ihre Wangen zurück; es schien, als[69] sei ihre fromme Sehnsucht gestellt. Sie blickte um sich und gewahrte Salvador, der sie unverrückt angeblickt hatte. Er hatte weder die Orgel gehört, noch die Litanei des Priesters nach dem Gesang des Chors, er hatte überhaupt nicht gehört, nur gesehen – Lydia. Er erschrak fast, als Lydia sich erhob. Taumelnd folgte er ihr hinaus auf die jetzt fast menschenleere, mondbeschienene Straße. Sie hatten nur wenige Schritte bis zu Lydias Wohnung. Als sie den Perron in die Höhe stiegen, öffnete sich die Thüre und eine tief im Mantel gehüllte Gestalt trat mit hastigen Schritten heraus. Es war Lichninsky, der von Alicen kam. Lydia hatte ihn zuweilen vom Fenster aus gesehen und kannte ihn durch Alice. Er erkannte sie sogleich wieder und erstaunt über die wunderbare Schönheit – sie hatte vergessen den Schleier herabzulassen – blieb der Fürst einige Sekunden auf der Schwelle stehen, in ihren Anblick versunken. Lydia war unwillig über diese Störung und sagte mit sanftem aber festem Tone: – Fürst Lichninsky, Sie stehen mir im Wege.[70]

Der Name Lichninsky brachte auf Salvador, der den Fürsten gar nicht beachtet hatte, eine elektrische Wirkung hervor. Seine erste Bewegung war ein Griff nach der Schärpe. Er vergaß, daß er sie abgelegt. Da ballten sich seine Fäuste in krampfhaften Zuckungen, seine Lippen bebten. So trat er neben Lydia, dem Fürsten gegenüber aber außer Stande, seine Gefühle in Worte zu fassen, wiederholte er nur die Worte Lydias, die in seinem Munde eine ganz andere Bedeutung erhielten:

Fürst Lichninsky, Sie stehen mir im Wege.

Lydia sah, erschreckt über diese Unart, den Knaben an, der bisher so folgsam und sanft sich gezeigt. Der Fürst maß ihn mit einem erstaunten, doch kalten Blick, und schlug darauf ein lautes Gelächter auf. – Jetzt war Salvadors Wuth bis zur äußersten Grenze gebracht. Er machte sich bereit, dem Fürsten einen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen, da fühlte er eine feste Hand sich auf seine Schulter legen. Erzürnt blickte er sich um, als er jedoch in das ruhige, vorwurfsvolle[71] Gesicht des Paters schauete, ließ er den Kopf sinken und Thränen glänzten in seinen Augen.

Lydia hatte mit Neugierde diese Scene, welche fast nur den Zeitraum einer Sekunde umfaßte, zugeschaut. Jetzt wandte sie sich an Angelikus mit der Bitte um seinen Segen für die Zeit ihrer Trennung.

– Ich segne Dich von Herzen, meine gute Tochter – sagte der Pater mit bewegter Stimme. – Mögst Du anderwärts die Ruhe finden, die Du bisher vergeblich gesucht. Ich habe dafür gesorgt, daß Dir auch in Deinem neuen Aufenthalt der geistliche Beistand nicht mangelt. Darauf drückte er einen väterlichen Kuß auf ihre Stirn und entließ sie.

Als Lydia sich entfernt hatte, standen Lichninsky und der Pater einander gegenüber.

– Armes Kind – sagte, wie zur Erklärung der Letztern – Sie hat die beiden Eltern in kurzer Zeit verloren und steht nun ganz verwaist in der Welt da, ohne Freunde und Verwandte.[72] Auf meine Bitte hat unsere Freundin Alice sich erboten, sie mit sich nach Berlin zu nehmen, und dafür zu sorgen, daß sie dort eine passende Stellung findet. Eben war ich im Begriff, zu ihr zu gehen. Es scheint, als kommen Sie jetzt von einem Besuche bei ihr.

Der Pater war, der Anweisung Alicens folgend, die Treppe hinabgestiegen und von dort durch das Hintergebäude in die Seitenstraße gelangt, so daß der Fürst, welcher jenen Ausweg nicht kannte, von der Grundlosigkeit seines Verdachts fast gänzlich zurück kam, als er sah, daß der Pater, eben von der Straße kommend, ihm auf der Schwelle begegnete. Dennoch wollte er noch eine letzte Probe machen.

– Sie ist sehr angegriffen und bedarf der Ruhe, wie sie mir sagte – entgegnete er auf des Paters Aeußerung, daß er Alicen besuchen wolle.

– Nun, es ist nichts Wichtiges, was wir zu verhandeln haben. So will ich sie denn nicht[73] weiter stören. Gehen wir eine Straße miteinander, Fürst, wenn's Ihnen gefällig ist.

– Von Herzen gern – erwiederte dieser, jetzt vollständig beruhigt, indem er dem Pater den Arm reichte.

Sie schritten eine Zeit lang lautlos neben einander her. Beide waren unruhig: Lichninsky, weil er über den Sinn der geheimnißvollen Art, mit der Alice auf die Uhr gewiesen und den Schlüssel ihm in die Hand gedrückt, zwar klar, aber über die Gründe zu diesem Verfahren vollständig im Dunkeln war. War Jemand Zeuge ihres Gesprächs gewesen oder nicht? Der Pater, – der einzige Mensch, welchem Alice, wie er glaubte, vielleicht eben so viel Vertrauen schenkte, wie ihm selber, und dem sie die Stunde des Rendez-vous auf dem heutigen Spaziergange mitgetheilt haben konnte – konnte es nicht sein, davon war er jetzt überzeugt. Wer also konnte es sein? Ueber diese Frage grübelte er lange nach, ohne ihrer Lösung deshalb näher gerückt zu sein. –[74]

Der Pater seinerseits hatte aus den Lücken, welche das Gespräch zwischen Alicen und Lichninsky einige Mal erhielt und in Folge deren der Fürst die Untersuchung des Zimmers vorgenommen, mit Recht geschlossen, daß Alice statt der Worte sich der Zeichensprache bedient habe, die, wie sie wohl wußte, dem Pater verloren gehen mußte, da der Vorhang des Alkovens sehr dicht war. Was waren das nun für Zeichen gewesen? Eines freilich hatte er bemerkt, die Stunde, auf die der Zeiger der Uhr gerichtet war. Es konnte Zufall sein, es ist wahr: aber der Pater wollte sicher gehen: sein Entschluß war gefaßt.

Als die beiden Männer, von denen Jeder den Anfang eines Gesprächs vom Andern erwartete, weil Jeder sich zu verrathen fürchtete, wenn er den Andern auszuforschen versuchen wollte, waren schweigend bis zur Ferdinandsbrücke gekommen, wo sie sich trennten. Der Pater schritt über die Brücke fort nach seinem Gasthofe zu, Fürst Lichninsky begab sich nach seiner Wohnung, welche[75] im Schottenviertel lag. Auf der Brücke blieb der Pater stehen und sah sich nach Salvador um. Er hatte ihn, in seine Gedanken vertieft, gänzlich vergessen.

– Er wird dem Fürsten gefolgt sein – murmelte er vor sich hin.

Salvador war in der That dem Fürsten gefolgt, aber nicht, wie der Pater vermuthete, um in seine Dienste zu treten, sondern um seine Wohnung auszukundschaften. Er merkte sich genau Straße und Nummer des Hauses und eilte dann mit schnellen Schritten durch das Schottenthor über das Glacis, die Alsengasse hinab bis zu deren letzter Querstraße. Hier bog er ein und schritt durch den Thorweg eines kleinen unansehnlichen Hauses über den Hof nach dem Seitengebäude. Auf seinen Ruf zeigte sich ein Licht am Gibelfenster des zweiten Stocks, das nach dem Garten hinaussah. Bald darauf hörte man den leisen Tritt eines weiblichen Fußes die Treppe hinabkommen. Die Thüre wurde aufgeschlossen.[76]

– Bist Du's, Salvador, mein Sohn – fragte eine Stimme in spanischer Sprache.

– Ja, Mutter.

Die Thüre öffnete sich. Es war Ines, die verlassene Geliebte des Fürsten.[77]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 56-78.
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