VII

[95] Wir müssen jetzt kurz dem Leser davon Rechenschaft geben, wie es zuging, daß Pater Angelikus noch einen so späten Besuch bei Ines machte. Er – nämlich der Leser – wird sich erinnern, daß der ehrwürdige Herr, nachdem er sich vom Fürsten getrennt hatte, über die Ferdinandsbrücke schritt, um sich nach Hause zu begeben.

Als er jedoch an dem jenseitigen Ufer angelangt war, fiel ihm ein, daß er von Alicen keinen Abschied genommen, indem er, sobald der Fürst sie verlassen hatte, die geheime Treppe hinab, über den Hof geeilt und durch die Seitenstraße in die Wollzeile einbog, gerade in dem Augenblicke, wo[95] der Fürst das Haus verlassen wollte. Es fiel ihm, wie gesagt, ein, daß er von Alicen keinen Abschied genommen. Das war unartig, es war wahr: es war undankbar, und vor allen Dingen: es war unklug. – Was mußte Alice daraus schließen? sie, vor deren Klugheit er einen gewissen Respekt hatte – – und das wollte bei Angelikus viel sagen. – Würde sie nicht auf die Vermuthung kommen, daß er mehr ahne, als ihr lieb sei? Daß er vielleicht mit dem Fürsten gesprochen und von diesem durch unschuldig scheinende Fragen mehr erfahren, als ihr zweckdienlich scheinen mochte? Und würde diese Vermuthung ihm nicht ihr Mißtrauen, ihren Haß zugezogen haben? – Der Pater war empfindlich gegen diesen Haß, er fürchtete die Feindschaft dieser Frau nicht nur deshalb, weil er ihrer nothwendig bedurfte, sondern auch darum, weil sie ihm, das heißt: seinen Plänen gefährlich werden, ja sie vollständig vernichten konnte.

Er wandte also seinen Schritt dahin, woher er gekommen, zu Alicens Wohnung.[96]

Unterwegs durchleuchtete ein neuer Gedanke sein grübelndes Gehirn.

Er wollte Alicen einen ihm mit Leib und Seele ergebenen und verschwiegenen – Begleiter mitgeben: Salvador. Es paßte sich vortrefflich, daß Lydia den Schwarzkopf schon kannte und, wie es schien, Vertrauen zu ihm gefaßt hatte. Er würde also von dieser Seite keinen Einwand zu bekämpfen, ja vielleicht Beistand bei seinem Antrage zu erwarten haben.

Zugleich entfernte er dadurch den leidenschaftlichen Jungen aus der Nähe des Fürsten, da ihm – aus Gründen, die später deutlicher sich darlegen werden – Alles daran gelegen war, daß der Fürst für's Erste unangetastet blieb. Während er diese Reflexionen machte, war er bei Alicen angelangt, deren forschenden Blick er glücklich zu ertragen wußte. In Bezug auf seine Bitten wegen des Knaben kam ihm Alice auf halbem Wege entgegen. Sie ahnte die Schlinge nicht, die ihr damit gelegt wurde. Nachdem noch das Nähere und Weitere verabredet war, und Angelikus versprochen[97] hatte, Salvador des Morgens früh, eine Stunde vor ihrer Abreise, bei ihr einzuführen, empfahl er sich und eilte, froh darüber, die doppelte Verlegenheit so schnell und leicht überwunden zu haben, zu Ines.

Wir kehren nunmehr zu unserm jungen Nachtwandler zurück.

Mit schnellen Schritten eilte er dem Stephansplatze zu. Hier wurde sein Gang langsamer, bis er endlich das bezeichnete Haus erreicht hatte. Es war ganz dunkel, nur das äußerste Eckfenster des zweiten Stocks war erhellt. Des Knaben Phantasie brachte ihn sofort zu der Ueberzeugung, daß dies ihr Fenster sei: und wirklich hatte er diesmal recht. Die beiden Frauen mochten mit Einpacken beschäftigt sein, denn Salvador sah häufig bald einen bald zwei Schatten auf den weißen Rouleaux, welche zum Schutz gegen neugierige Blicke der gegenüberliegenden Etagen niedergelassen waren, hin und her gleiten. Salvador setzte sich auf einen Prellstein an der Ecke eines gegenüberstehenden Hauses, und sah unverwandten[98] Blickes zu dem Fenster empor. Mitternacht war längst vorüber; dumpf hallte die Glocke des Stephansthurms die erste Stunde des Morgens durch die schweigende Nacht. – Salvador hatte seinen Blicken noch keine andere Richtung gegeben. –

Wieder war eine Stunde vorüber. Es schlug zwei: der Knabe rührte sich nicht. »Merke genau« – hatte der Pater gesagt – »zwei Uhr und zwanzig Minuten.« Salvador hatte es vergessen. Aber als die Wellen des letzten Schlages in die reine Luft verflossen waren, wollte es ihm bedünken, als ginge eine Veränderung in dem Zimmer vor. Es wurde plötzlich lichter als zuvor, dann trat die frühere matte Helligkeit wieder ein, aber bald darauf erhellten sich zwei an der andern Seite des Gebäudes gelegene Fenster in derselben Etage. – Da kam Salvador zum Bewußtsein; er raffte sich empor und besann sich darauf, daß es zwei Uhr geschlagen. Zugleich fielen ihm die Worte des Paters ein: Zwei Uhr und zwanzig Minuten. Er zog seine blaue Jacke, die er über die Livree gezogen, fester um sich, drückte seinen Strohhut[99] tiefer ins Gesicht und begann jetzt, langsam die Straße auf und niederzuschreiten, indem er rings spähende Blicke umherwarf, die jedoch zuweilen auch das Eckfenster trafen.

Sein Herz klopfte, als sollte er ein Verbrechen begehen, stärker und stärker, je näher es dem festgesetzten Zeitpunkt kam. Endlich sah er eine tief in den Mantel gehüllte männliche Gestalt vom Stephansplatz her die Wollzeile heraufschreiten. Er erkannte sogleich den Fürsten, und ging ihm schlendernden Ganges, und als bemerke er ihn gar nicht, entgegen. Der Fürst eilte an ihm vorüber, ohne ihn zu beobachten. Jetzt mußte er an der Hauptthüre sein; Salvador wandte sich um: die Thüre öffnete sich – der Fürst war verschwunden.

Salvador nahm wieder seinen Platz auf dem Eckstein ein: das Fenster Lydias war dunkel; – dagegen strahlten die andern beiden, später erhellten Fenster einen durch keine Rouleaux gebrochenen Glanz ihm entgegen. – Jetzt trat eine männliche Gestalt an das Fenster. Da fuhr es ihm wie ein Dolchstich durch die Seele und er fühlte[100] zum ersten Male den schmerzhaften Stachel der Eifersucht in seinem Herzen, das in diesem Augenblicke seine Unbefangenheit für immer verloren.

– Fürst Lichninsky – flüsterte halb träumerisch der arme Knabe, indem er drohend die Hand gegen den Himmel erhob:

Fürst Lichninsky, Sie stehen mir im Wege.

Folgen wir nun dem Fürsten zu Alicen.

Rasch stieg er die Treppen hinan und war wenige Sekunden darauf bei Alicen.

Der Fürst stellte den Hut aufs Fenstergesims und warf mit jener graziösen Nachlässigkeit, die nur bei wirklich aristokratischen Naturen nicht affectirt erscheint, seine Handschuhe hinein.

– Ich habe Sie also verstanden – sagte er mit gleichgültigem Tone – Sie erwarteten mich.

– Freilich, ich erwartete Sie und nun will ich Ihnen vor allen Dingen Aufklärung darüber geben, was heute oder vielmehr gestern Abend Sie zu jenem absonderlichen Mißverständnisse verleitete, als würden wir belauscht.[101]

Der Fürst erwiederte nichts. Er rückte einen Stuhl an den Tisch, hinter welchem Alice auf dem Sopha saß und blätterte in einem Reisealbum, das sie auf allen ihren Streifzügen mit sich führte und mit ihren Erinnerungen bereicherte.

– Sie scheinen nicht begierig darauf – fuhr Alice mit gereiztem Tone fort, froh darüber, einen Grund zum Streit gefunden zu haben, der sie vielleicht der Nothwendigkeit einer solchen »Aufklärung« – überheben könnte. – Schweigen wir also davon, wenn Sie es so wünschen.

– Ich wünsche es nicht – sagte lakonisch der Fürst.

Alice glaubte sich durchschaut und erröthete unwillkührlich. Sie mußte zu einer andern Taktik ihre Zuflucht nehmen, das fühlte sie wohl. – Sie setzte der Einsylbigkeit des Mißtrauens die Einsylbigkeit des Stolzes entgegen.

– Was wünschen Sie also, Durchlaucht? – fragte sie fast hochmüthig.

Der Fürst blickte empor: – Sie haben gewünscht, gnädige Frau – erwiederte er mit derselben[102] hochmüthigen Kälte – daß ich um diese Zeit hier mich einfinden solle, wenn ich Sie richtig verstanden. Nun denn, ich bin hier, auf Ihren Wunsch nämlich. Es könnte demnach auffallend scheinen, daß jetzt, wo ich Ihrem Wunsche gehorsam, mich eingestellt, Sie mich fragen, was ich wünsche. –

Der Fürst erhob sich. – Das Umgekehrte wäre naturgemäßer, sollte ich meinen. Indessen war ich zu bescheiden, um eine solche, gegen alle gute Lebensart sündigende, Frage an Sie zu richten. Ich wartete ab: voilà tout. –

Der Fürst warf seinen Mantel über die Schultern.

Alice erbleichte, als sie sah, daß der Fürst entweder wirklich beleidigt war oder den Beleidigten spielte. In beiden Fällen war er gegen sie im Vortheil; aber ihr Benehmen mußte für jeden der beiden Fälle ein durchaus verschiedenes sein. Schnell wie sie die Nothwendigkeit dieser Unterscheidung erkannte, beantwortete sie sich auch die Frage, ob die kalte Gereiztheit des Fürsten[103] nur eine Maske war, vermittelst deren er über sie zu triumphiren versuchen wollte, oder ob er diesmal wirklich beleidigt war. Im ersten Falle konnte sie es wagen, Trotz dem Trotzigen zu bieten, denn sie war sich ihrer größeren Consequenz bewußt; im andern Falle war ihre Lage schwieriger; und – sie konnte es sich nicht abläugnen, daß sie sich in dieser schwierigen Lage wirklich befand. – Der Fürst ergriff seinen Hut und steckte die Handschuhe in die Rocktasche. –

Vielleicht wird der Leser lachen, wenn wir ihm mittheilen, daß in diesem einzigen Umstande, daß der Fürst die Handschuhe in die Tasche steckte, Alice die Ueberzeugung gewann, der Fürst sei ernstlich erzürnt auf sie. Er hätte sie sicher – so reflektirte sie – mit hastiger Langsamkeit angezogen, um für sich Zeit zu gewinnen und ihr zu lassen. Ihr Operationsplan war gefaßt. Sie schwieg und lehnte sich, die Hand über die Augen haltend – als blendete sie das Licht, – in das Sopha zurück. Ihr ganzes Wesen nahm den lebendigen[104] Ausdruck einer aus Mißkennung stammenden Resignation an. –

Der Fürst war zum Abschiednehmen fertig. Er stand vor ihr, erwartend, daß sie sich emporrichten würde. Aber sie reichte ihm – ohne ihre Stellung zu verändern – die linke Hand und sagte mit leiser Stimme, als fürchte sie durch lauteres Sprechen ihre Bewegung zu verrathen: – Leben Sie wohl, Felix! – Es lag ein solcher Zauber in diesem Ton, daß des Fürsten Zorn schon halb gebrochen war. Er hielt ihre kleine zierliche Hand noch in der seinigen, schwankend, was er sagen, was er thun solle. Jetzt überflog sein Auge die vor ihm liegende reizende Gestalt, welche durch ein schneeweißes, leichtes Negligee noch mehr gehoben, einen verführerischen Anblick darbot.

– Alice – sagte sanft der Fürst, indem er ihre Hand nach einem leisen Drucke fahren ließ.

Alice ließ ihre Rechte von der Stirn gleiten. Zwei große Thränen glänzten in ihren Augen.[105] Sie blickte ihn durch dieselben mit unaussprechlicher Traurigkeit an.

Jetzt war es um des Fürsten Kälte geschehen. Er warf Hut und Mantel weit von sich und kniete vor Alicen nieder, ihren schlanken Körper umfassend und an seine Brust drückend. Sie beugte sich über ihn und drückte einen Kuß in sein schwarzes reiches Haar.

– Du hast mir wehe gethan, Felix – sagte sie mit demselben sanften Tone der Resignation.

– Verzeihung Alice –

– Höre mich jetzt, ich will Dir erklären –

– So willst Du mir nicht verzeihen? – bat der Fürst. – Ich glaube Dir, ich vertraue auf Dich und bitte Dich zum Zeichen, daß Du mir verziehen, mich nicht demüthigen willst durch die Erinnerung an meine gestrige Tollheit, von jeder Erklärung abzustehen. – Versprich mir das, Alice! Die Strafe wäre zu hart, wolltest Du darauf bestehen; denn es wäre eine Mahnung daran, daß ich Dir mißtraute. Noch einmal: Verzeihung Alice! –[106]

Alice hatte vollständig gesiegt.

Sie hatte gezittert bei dem Gedanken an die Nothwendigkeit einer Aufklärung. Jetzt wurde es von ihr als eine Gnade erbeten, darüber zu schweigen. Konnte ein Sieg vollständiger sein? Aber Alice verstand nicht nur zu siegen, sie verstand auch ihren Sieg mit Vorsicht zu benutzen. – Sie entzog sich nicht den Liebkosungen Lichninsky's, sie gab ihnen aber auch nicht nach. Sie wollte seine Leidenschaft in diesem Augenblicke weder bis zur Glut anfachen, noch bis zur Kälte dämpfen. – Denn in beiden Fällen würde sie nicht erreicht haben, was sie wollte: einen Blick in die letzte Perspektive seiner Pläne zu werfen.

– Schweigen wir also davon, wenn Sie es so wollen – sagte sie mit schalkhaftem Lächeln, welche die Ironie milderte, die in der Wiederholung dieser am Anfange des Gesprächs von ihr gebrauchten Worte lag. – Und nun erheben Sie sich aus dieser für Sie demüthigenden Stellung und setzen Sie sich an meine Seite.

– Sie sind grausam, doppelt grausam in diesem[107] Augenblick. Ich nehme es aber als gerechte Strafe hin, und gehorche. – Er sprang auf, und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. – Alice beobachtete ihn. –

– Sie sind heute sonderbar aufgeregt, Felix. Ist es erlaubt, nach dem Grunde zu fragen?

– Glauben Sie an Ahnungen, Alice? – fragte der Fürst, indem er vor ihr stehen blieb.

– An Ahnungen? – Je nachdem – wenn ich gerade in der Stimmung bin. – Indessen, Sie wissen, daß ich Atheistin bin. Wer keinen Glauben hat, sollte ich den ken, ist noch weniger dem Aberglauben zugänglich.

– Das ist kein Grund. Die radikalsten Freidenker sind wie die sentimentalsten Pietisten am abergläubischsten. Les extrêmes se touchent.

– Mag sein; ich will mit Ihnen nicht philosophiren. Wie kommen Sie jedoch darauf?

– Weil ich seit gestern Abend das Gefühl nicht los werden kann, als – aber Sie müssen nicht lachen! – als weile irgend eine feindliche Macht, ein Unbekannter, ein je ne sais quoi in[108] meiner Nähe, das – nun ja, das mir den Garaus zu machen bestimmt ist.

Alice lachte laut auf. – Sie haben ein böses Gewissen, Freund, schämen Sie sich.

– Ein böses Gewissen? – Der Fürst schüttelte den Kopf. – Sehen Sie, das ist's eben, was mich zur Verzweiflung bringt, daß ich diesem Gefühl keinen Stoff, keinen Anhalt geben kann. Es ist eine Albernheit, eine Verrücktheit – ich gebe es zu: aber das ändert die Sache nicht.

– Schade, daß ich heute abreisen muß, ich könnte Sie sonst Morgen Abend zu einer berühmten Sybille führen, die Ihnen aus den Karten Ihr Schicksal wahrsagen würde.

– Scherzen Sie nicht. Ich sage Ihnen, daß ich seit gestern Abend den Damokles für keinen Feigling halte, wie ich sonst gethan.

– Vielleicht hat sich irgend Eine Ihrer verlassenen Geliebten auf den Weg gemacht, um den Verräther zu strafen, eine wüthende Römerin, oder – was wahrscheinlicher ist – eine rasende Spanierin. –[109]

Alice hatte in ihrer gewöhnlichen scherzhaften Weise gesprochen, ohne daran zu denken, daß ihre Worte mehr als eine Neckerei enthalten könnten. Wie erstaunte sie, als sie den Fürsten plötzlich bis an den Rand der Lippen erbleichen sah. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, schüttelte sich, wie Jemand, der einen schweren Traum gehabt und brach sodann in ein Gelächter aus. –

Dies Lachen aber klang unheimlich und mißtönend.

– Zum Teufel mit der Gespensterfurcht! – Im Arm der Liebe werden die Phantome weichen, wie die Nebel vor dem Sonnenstrahl.

Wieder warf er sich vor Alicen nieder. Sein Auge brannte fieberhaft und seine Wangen glühten in dunklem Purpur. Mit Heftigkeit riß er das schöne Weib an sich, das in diesem Augenblicke ihr Herz etwas rascher schlagen fühlte.

– Ruhig, Felix – ein leises Zittern beschlich ihre Stimme – wir haben noch Vieles und Wichtiges mit einander zu sprechen. Hören Sie, schon ist's 3 Uhr; noch drei Stunden und ich habe Wien[110] verlassen, um es vielleicht auf lange Zeit nicht wieder zu sehen. – – – – Felix, ich bitte Dich – –

Vielleicht wäre Alicens Widerstand geringer gewesen, wenn sie nicht gefürchtet hätte, daß der Fürst in seiner Leidenschaftlichkeit alles Andere, um das es ihr bei diesem Rendezvous gerade zu thun gewesen, vergessen würde. Aber die Grenze war bereits überschritten, wo sie ihn zur Besinnung zurückzuführen noch vermocht hätte. Er war in einer, durch mannigfache Eindrücke, denen sein phantastisches Gemüth so zugänglich war, verstärkten Aufregung, deren Wellen sie durch nichts mehr als durch die schnellste Flucht in ihre Ufer zurückdämmen konnte. – Sie riß sich daher aus seinen Armen los, und eilte in das Nebenzimmer.

Der Fürst gehörte zu jenen Naturen, die einmal im Innern von einer Idee erfaßt, im nächsten Augenblicke alle Mittel anwenden, sie zu erreichen, und die bei ihrem gewaltsamen Anstreben keine Schranke achten und keine Autorität respektiren. Ist der Widerstand größer als ihre Kraft,[111] so erschlaffen sie freilich eben so schnell und beruhigen sich bei dem Gedanken der Unmöglichkeit um so leichter, als in den meisten Fällen ihr wandelbares Herz schon wieder durch ein neues Objekt in Anspruch genommen wurde.

Der Fürst sprang empor wie ein verwundeter Tiger. Sein Auge rollte, seine Lippen schäumten, seine Brust hob und senkte sich krampfhaft. So stand er vor der verschlossenen Thür. – Einen Augenblick war sein Blick auf die Scheidewand zwischen ihm und seinen Wünschen gerichtet, dann stürzte er mit einem verzweifelten Satz darauf los: die Thüre krachte in ihren Fugen und flog mit einem ungeheuren Knall auf.

Alice stand bleich und zitternd mitten in ihrem Schlafzimmer. Endlich brach sie in ein lautes Gelächter aus.

– Nun wahrhaftig – ich habe geglaubt, dergleichen Ritterthaten seien nur in Italien oder Spanien an der Tagesordnung. Ich weiß Ihnen Dank für diesen Liebesbrief in Frakturschrift,[112] Felix, und werde mich erkenntlich beweisen. Nehmen Sie Platz.

Das Schlafzimmer Alicens bot einen Anblick von raffinirter Verschmelzung von orientalischem Luxus und aristokratischer Einfachheit dar.

Die herrschende Farbe desselben war ein mattes Blau, welches in bald hellerer, bald tieferer Schattirung die schweren seidenen Gardinen, die Teppiche, die Tapeten und den wollüstigreichen Divan bedeckte. Die eigentliche Bedeutung dieses Blaues aber war in einer kleinen dunkelrothen Ampel enthalten, welche von der Decke herabhängend, aus ihren tausend scharf geschliffenen Façaden einen Purpurglanz ausstrahlte, der sich auf's Innigste mit dem Blau des Zimmers vermählend, das Letztere in eine Teinte hüllte, deren mannichfaltiges zauberhaftes Farbenspiel ein Abglanz der Empfindungen darzustellen schien, welche in dem Busen der schönen Bewohnerin dieses Zimmers auf und ab wogten.

Der Fürst stand noch immer lautlos vor Alicen.[113] Endlich sagte er mit düsterm Blicke, einer Stimme, die vor Bewegung zitterte:

– Sie spielen mit mir Alice. – Sagen Sie mir den Grund, so will ich zufrieden sein. – – Sie antworten nicht?

– Weil ich Sie nicht verstehe.

Der Fürst lächelte ironisch. – Wir scheinen heute dasselbe Unglück zu haben. Schade, daß die Zeit zu kurz ist, um ein gründliches Verständniß herbeizuführen. So hören Sie denn, was meine Meinung darüber ist. Wenn ich von Ihnen gehe, ohne daß die heutigen Räthsel zwischen uns gelöset sind, so hüten Sie sich – ich rede als Freund zu Ihnen – mir künftighin noch andere aufzugeben. Ich könnte das Unglück haben, für Sie ein Oedipus zu werden.

– Halten Sie mich in der That für ein Ungeheuer? – lächelte Alice mit schelmischer Koketterie. Seien Sie kein Thor, Felix, und lassen Sie Ihre düsteren Sentimentalitäten bei Seite. Was ich von Ihnen fordere, ist vor allen Dingen Mäßigung, im Uebrigen werden wir uns, hoffe[114] ich, verständigen, wenn Sie – woran ich nicht zweifle – von der Wahrheit des Satzes durchdrungen sind, daß halbes Vertrauen bedenklicher ist, als vollständiges Mißtrauen. – Und nun setzen Sie sich und reden wir vernünftig.

Alice faßte den kaum Widerstrebenden bei der Hand und zog ihn auf den Divan nieder.

– Gut – sagte der Fürst – ich will Ihnen Alles sagen, doch vorher eine Frage: Wer hat Ihnen den Brief an die Herzogin von Nagus gegeben und was ist sein Inhalt?

Alice besann sich eine kurze Zeit. – Der Brief ist von Angelikus. Seinen Inhalt kenne ich nicht.

– Ich dachte es mir – murmelte der Fürst. – Nur zu, ihr Heuchler und Schleicher. Eure Schlingen sind fein angelegt. Nehmt euch in Acht, daß nicht zuletzt euer eigener Hals darin stecken bleibt.

– Es bedarf von meiner Seite nicht der Aufforderung an Sie, von dieser Mittheilung keinen Gebrauch zu machen.[115]

– Seien Sie ruhig. Es liegt in meinem eigenen Interesse, daß Sie mich getäuscht glauben. – Nehmen wir nun unser heutiges Gespräch wieder auf. Hier habe ich Ihnen sämmtliche Adressen, welche Sie brauchen, aufgeschrieben. Er reichte Alicen einen Zettel. – Nehmen Sie auch für alle Verbindungen, die ich in Berlin besitze, diese Erkennungskarte, die Ihnen alle Thüren öffnen wird.

Alice lächelte. – Sie rechnen sich also auch zu den Kindern des Achtzehnten? Das habe ich nicht gewußt.

Der Fürst sprang, wie von einem Zauberschlage getroffen, empor. Langsam setzte er sich wieder nieder.

– Sie gehören zu den Eingeweihten; desto besser. So bedarf es der Einführung nicht, und wir können deutlicher mit einander sprechen. – Des Fürsten Stimme wurde plötzlich ernst, eine tiefe, innere Bewegung schien ihn zu durchströmen, als er fortfuhr: Alice, theures Weib, wenn je ein Augenblick günstig war, um Vertrauen[116] gegen Vertrauen auszutauschen, so ist es dieser. Ich sage Ihnen offen, daß ich über das, was die Achtzehner wollen, hinaussehe. Was jene wollen, ist für mich nur der Anfang des Anfangs. Es wird an uns liegen, ob wir das Ende erreichen. Gehen Sie denn hin und seien Sie aufmerksam. Nehmen Sie an den Versammlungen Theil, aber compromittiren Sie sich nicht durch irgend welche Demonstration. Es wird Ihnen ein Leichtes sein, die Führer zu vertraulichen Mittheilungen zu veranlassen. Behalten Sie getreulich Namen und Sachen, aber schreiben Sie nichts auf. – Alice, wollen Sie mit mir kämpfen, mit mir die Früchte des Sieges genießen? Der Fürst schlang seinen Arm um den schönen Leib Alicens, die ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. Ihre Lippen fanden sich. Alice wußte jetzt genug, um länger zu widerstreben. In dem Rausche der Leidenschaft, in den sie den schönen Mann versetzte, legte sich seine Seele völlig klar ihren Augen dar und war noch eine Falte übrig gewesen, so hatte sich diese unter[117] der liebkosenden Hand der schönen verführerischen Frau schmiegsam geglättet.

Es schlug 5 Uhr, als sich Alice aus den Armen des Fürsten emporraffte. – Lebe wohl, Geliebte – in Berlin sehn wir uns wieder.[118]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 95-119.
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