IX

[70] Am Morgen des 18. März schien es, als ob plötzlich aller Zwist, der seine blutige Geißel die ganze Woche hindurch über die Hauptstadt geschwungen hatte, verschwunden, und das Berliner Volk seinen alten Charakter der Jovialität und Leichtfertigkeit wiedergefunden hätte. Man sah nur freudig daherwandelnde Gruppen und heitere Spaziergänger. Alles deutete darauf hin, daß der Hader beseitigt und das alte Verhältniß philiströser Anhänglichkeit des Volkes zum Könige wiedergekehrt sei. Die Bürgerwehr sollte errichtet werden. Die Menge strömte nach dem Zeughause, wo der nachherige Minister von Schreckenstein in höchsteigener Person die Vertheilung der[70] Waffen vornehmen ließ. Alles war zufrieden. Man hatte so schnell seinen Groll vergessen, daß man sogar der angebornen Spottlust über die Ereignisse der letzten Tage freien Lauf ließ.

Dennoch hätte ein aufmerksamer Beschauer selbst in der scheinbaren Harmlosigkeit des Volks eine große Veränderung wahrgenommen. Man witzelte, lachte, flanirte umher, wie vor zehn Tagen, aber die Witzeleien hatten eine politische Pointe, das Lachen glich dem Hohnlachen eines siegsgewissen Kämpfers, wie ein Ei dem Andern, und in dem schlendernden Gange der Spaziergänger lag eine Nonchalance, welche weniger das Gepräge eines absichtslosen Sich-Gehen-Lassens als einer übermüthigen Nichtberücksichtigung der Form trug, welche aus einem Gefühl der Nichtachtung des Gegners entspringt.

Das Volk hatte offenbar das Bewußtsein, einen ersten Sieg errungen zu haben, und in diesem Bewußtsein die ahnungsreiche Hoffnung, daß dieser erste Sieg nicht der Letzte sein werde.[71]

Sämmtliches Militär war theils in den Kasernen, theils im Schlosse consignirt. Der König hatte, durch die Erfahrung der letzten Tage belehrt, am meisten aber durch die Wiener Revolution und deren Consequenzen erschreckt, ein anderes System eingeschlagen. Man versuchte es, das Volk sich selbst zu überlassen, um zu sehen, ob der angeschwollne Strom von selbst zu dem gewöhnlichen Niveau herabsinken werde. So wogte denn heute die Menge wie ein Meer nach dem Sturme auf und ab.

Gegen Mittag hieß es plötzlich, der König werde um 2 Uhr vom Balkon des Schlosses herab dem Volke eine Constitution ertheilen und das gesammte Ministerium entlassen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich das Gerücht durch die ganze Stadt und setzte ungeheure Massen nach dem Schloßplatze in Bewegung.

Auch Alice, welche mit dem Prinzen A. von einer Spazierfahrt zurückkehrte, überredete ihn, sich mit ihr der Menge anzuschließen. Bald waren sie denn auch dem Schlosse gegenüber fest[72] eingekeilt. In diesem Moment erschien der König, sprach zu dem versammelten Volke einige Worte, von denen aber nicht einmal der Ton zu unsern beiden Freunden herabdrang, und entfernte sich dann wieder. Ein vieltausendstimmiges Lebehoch drang aus der Menge zu ihm empor und brach sich in mächtigen Echos an den grauen Wänden des altehrwürdigen Gebäudes.

Abermals begann die Menge, sich in Bewegung zu setzen. Der Prinz gelangte mit Alicen glücklich zum Hauptportal. Doch bald wurde hier das Gedränge am stärksten. Den Eingang desselben hatten die neuerfundenen Friedensmänner mit weißen Binden um den Armen eingenommen. Hinter ihnen standen die Garden, deren Bajonette über die Köpfe ihrer Vordermänner hervorragten.

Des Volkes hatte sich jetzt ein aus seiner momentanen Stimmung allein erklärlicher Enthusiasmus bemächtigt. Alle Schranken zwischen ihm und dem Könige sollten jetzt fallen. –[73]

»Soldaten heraus!« tönte eine Stimme. Das war das Wort, das den Zauber löste und das Volk zum Bewußtsein brachte, was es eigentlich wollte. Preußen war ein Polizeistaat, noch mehr aber ein Militärstaat. Das fühlte in diesem Augenblicke die Menge, als ihrer Sehnsucht nach dem mit ihr ausgesöhnten Könige durch die Bajonette der Gardisten ein Zügel angelegt wurde.

»Soldaten heraus!« – schallte es jetzt aus tausend Kehlen. Man drängte nach dem Portale zu. Immer dichter und dichter schoben sich die Massen in- und durch einander. Da hörte man plötzlich den dumpfen Schall der Trommel. Infanterie rückte von der Schloßfreiheit her und schwenkte im Sturmschritt gegen die Menge um. In einem Augenblicke war der Schloßplatz durch Militär, welches von der Ecke der Breitenstraße bis nach dem Schloßgarten mit der Front nach der Kurfürstenbrücke aufgestellt war, in zwei große Hälften getheilt. Noch als der äußerste rechte Flügel den Bogen beschrieb, um seine Stellung einzunehmen, sprangen drei Soldaten aus den[74] Reihen heraus und mit vorgestrecktem Bajonette auf die Spatziergänger ein, welche aus Neugierde auf dem Trottoir vor den »Fiscatischen Laden« stillstanden, um von fern dem Treiben am Schloßportale zuzuschauen.

Alice stand nur zehn Schritte davon entfernt, sie war von der Seite des Prinzen gerissen und jetzt von ihm durch das Militär getrennt. Sie sah, wie die Soldaten auf die harmlos Dastehenden einsprangen und plötzlich – ob durch Zufall oder Absicht, konnte sie nicht entscheiden – sich ihrer Gewehre entluden. – –

Einen Augenblick nach dem doppelten Knall trat eine Todtenstille ein. Im nächsten tobte der Ruf: »Rache, Rache! das ist Verrath!« – durch die Menge; die Friedensmänner rissen die weißen Binden von dem Arme und traten sie mit Füßen. Vor einem Augenblicke allgemeiner Jubel, Enthusiasmus ohne Gleichen – im nächsten das Wuthgeschrei betrogenen Vertrauens. –

Alice dachte in diesem Moment an die Worte, welche sie zu Herrn v. M. gesagt:[75]

»Ein kluger Mann versucht nicht eher zu vermitteln, als bis die Vermittelung unmöglich geworden.«

– Sollte er nicht diesen Augenblick als den richtigen erkannt haben, um auf dem Schauplatze zu erscheinen – dachte sie bei sich und ihr Blick richtete sich unwillkührlich nach der Kurfürstenbrücke. Sie hatte sich nicht getäuscht. Herr v. M., umgeben von der aufgeregten Menge, mehr getragen als gehend, nahte sich dem Schlosse. Sie eilte ihm entgegen und setzte ihn mit wenigen ruhigen Worten die Lage der Dinge auseinander.

Er begab sich sogleich zum Könige hinauf. – – – –

Es war zu spät – – – –

Der General von Möllendorf hatte die Kurfürstenbrücke occupirt, und sah sich von hier aus den Bau der ersten Barrikade an der Ecke der heiligen Geist- und Königsstraße an. Alle Vermittlungsvorschläge wurden zurückgewiesen. Eine weiße Fahne, welche vom Schlosse herabgebracht wurde, und auf der mit großen Buchstaben zu lesen war:


[76] »Ein Mißverständniß! Der König will das Beste!«


mußte unter dem Hohngelächter des Volks zurückgebracht werden.

Die Entscheidungsstunde schlug. Nach einer Stunde waren in Berlin gegen 300 Barrikaden errichtet und 40 Feuerschlünde schleuderten Tod und Verderben unter die wackern Kämpfer, welche hinter ihnen standen. – – – –

Alice eilte nach Hause, um sich in ihre Männerkleidung zu werfen. Unmittelbar nach der oben geschilderten Scene zwischen Lydia und Salvador trat sie ins Zimmer. Ein Blick auf Lydia, welche ihre Verwirrung nicht zu verbergen vermochte, belehrte sie, daß Etwas in ihrer Abwesenheit vorgefallen sein mußte, das zu ergründen sie auf eine gelegenere Zeit verschieben mußte.

– Mach Dich doch zurecht, mir zu folgen, Salvador – gebot sie. – Du, Lydia, schließe die Thür und gewähre Niemandem, wer es auch sein mag, Einlaß. – – –[77]

Hört Ihr den Kanonendonner? Ha, der Tanz hat schon begonnen, und ich bin noch immer nicht im Festkleide, um daran Theil nehmen zu können.

– Um Gotteswillen, was willst Du thun, Alice? – fragte Lydia voller Angst.

– Salvador, meine Pistolen! Sind sie geladen?

– Ja.

– Gut. Jetzt wirf mir den Mantel über. Beunruhige Dich nicht, Lydia. Was wir in Wien versäumt haben, holen wir hier nach – sagte lachenden Mundes Alice, indem ihr Herz ungestüm pochte. – Die Revolution bricht los, mein Kind.

– Revolution? – jammerte händeringend Lydia. – Und Du willst hinaus in den Kampf. O, ich beschwöre Dich, Alice, bleib! Was soll ich anfangen ohne Dich. Ich ängstige mich hier zu Tode.

– Du bist eine Närrin, meine Lydia. Aber Du hast recht. Allein darfst Du nicht bleiben. Ich werde Salvador zurücklassen.[78]

Salvador wußte nicht, ob er sich darüber freuen oder betrüben solle. Er legte schweigend seine rothe Schärpe ab, setzte sich wieder auf die Bank und nahm in scheinbarer Gleichgültigkeit seine Zither zur Hand.

Diese bei Salvador unerklärliche Folgsamkeit, noch mehr aber die dunkle Röthe, welche urplötzlich Lydias Wangen überzog, machte Alice stutzig. Sie blickte auf Beide mit unverhehltem Erstaunen herab. Im nächsten Augenblicke jedoch lachte sie über ihre Vermuthung, hüllte sich tiefer in ihren Mantel und eilte leichten Schrittes die Treppe hinab.

Sie schritt rasch über den Opernplatz und den Lustgarten nach der Friedrichsbrücke zu, zuweilen mitten durch das Militair hindurch, das ja den Unbewaffneten passiren ließ. Die Friedrichsbrücke, sowie die Herkulesbrücke waren bereits verbarrikadirt, die erste von Studenten, die zweite von Arbeitern vertheidigt. Als sie die Barrikaden überstieg, wurde sie sogleich umringt.

Sie sollen uns anführen – hieß es.[79]

– Ich danke Euch, Freunde, das kann ich nicht annehmen. Aber wer kommt mit nach der »Neuen Wache?«

Bald hatte sich eine zahlreiche Schaar um sie versammelt, welche von Schritt zu Schritt sich vermehrte und wie eine Lavine anwuchs. Die »Neue Wache« liegt am Neuen Markt. Unterwegs fragte sie nach Ralph. Aber Niemand hatte ihn gesehen.

Als sie bei der »Neuen Wache« anlangten, war das in der Nähe befindliche Militair, etwa 25 Mann stark, unter's Gewehr getreten und entschlossen, seinen Posten zu vertheidigen. Alicens Schaar mochte etwa einige 50 junge Leute betragen, aber nur 5 davon, darunter Alice selber, waren bewaffnet, die meisten hielten nur Stöcke in den Händen, die Uebrigen waren völlig waffenlos. Alice stellte ihre Leute auf und fragte sie, ob sie entschlossen wären, ihr zu folgen.

– Bis in die Hölle – scholl es ihr entgegen.

– So kommt! Im gemessenen Schritt rückten sie auf die Soldaten an. Der Unterofficier, welcher sie befehligte, commandirte: »Fertig!« Die[80] Hähne knackten. Da rief ihnen Alice, welche nur noch etwa 20 Schritte von den Soldaten entfernt stand, zu: »Ein Schurke, wer auf seine Brüder schießt. Wer die Waffen niederlegt, kann frei abziehen. Entschließt Euch!«

Zugleich ließ sie ihre Schaar einen weiten Halbkreis um die Soldaten schließen. Die Soldaten schwankten. Auf einen Wink von ihr sprangen die die Endpunkte des Halbkreises bildenden Arbeiter den Soldaten in die Flanke. So von drei Seiten zugleich angegriffen, wagte der Unterofficier nicht mehr »Feuer« zu kommandiren – und die Soldaten streckten ihre Gewehre. Es wurde ihnen versprochener Maßen freier Abzug gewährt und in wenigen Minuten war die Wache vom Keller bis zu den Bodenräumen hinauf demolirt. Die Bänke, Tische, Stühle, Tonnen und sonstiges Holzgeräth wurde aus dem Fenster geworfen, als brauchbares Barrikadenmaterial. Der beste Fund aber bestand in 200 Säbeln, welche in mehreren Kisten auf dem Boden gefunden wurden. Schnell waren sie vertheilt.[81]

Alice eilte nun der Königsstraße zu. Auch hier wußte man nichts von Ralph.

– Schrecklich wär's, säße er noch in seiner Zelle – dachte sie bei sich – doch das ist ja nicht möglich. Steiger hat mir ja versprochen, ihn zu befreien. Sie schritt weiter über den Mühlendamm nach dem Petriplatze zu. – Da endlich sah sie Ralph im fürchterlichsten Kartätschenhagel ruhig auf der Barrikade stehen.

Einen Freuderuf ausstoßend, sprang sie auf ihn zu. – –[82]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 70-83.
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